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Gevatter Rhein (Etappe 1)

Es ist Sonntag, und ich plane, um 1100 Uhr loszufahren. Es wird 1330. Das heißt, nein, eigentlich hatte ich mal geplant, am Freitagnachmittag schon loszufahren, aber die berühmte Woche vor dem Urlaub kam mir dazwischen. Und dann wollte ich auch noch einmal meine besten Freunde zum Abschied sehen. Das war Samstag.

Jetzt packe ich zu Ende, versuche noch einmal, den kaputten Ständer mit Panzertape aus dem Auto am Rad zu fixieren. Es klappt nicht, ich lasse ihn zu Hause. Ich frühstücke und fechte diverse Kämpfe mit meiner inneren Stimme aus: „Fahr erst morgen, ist doch jetzt eh schon zu spät. Was willst du da eigentlich? Es ist Hauptsaison, glaubst du ernsthaft, dass da noch Platz für dich auf nem Campingplatz ist? Weißt du, was unterwegs alles passieren kann? Chill doch lieber auf dem Balkon! Das ist eh alles eine Nummer zu groß für dich!“

Ach, halt doch die Schnauze, innere Stimme!

Aber die Frage treibt mich in der Tat um: Ist das nicht alles ein bisschen weit? Ist das in drei Wochen überhaupt zu schaffen? Ist es wirklich klug, ins Blaue zu fahren? Was ist, wenn…?

Denn es soll einmal durch das ganze Land gehen. Einmal von Süd nach Nord durch Deutschland, und weil ich in Bonn wohne und damit so ziemlich in der Mitte, muss ich natürlich erst einmal in den Süden kommen. Ich könnte die Bahn nehmen, es ist der Sommer des 9-Euro-Tickets, aber ich fühle mich wohler auf dem Rad.

Ich gehe noch einmal auf den Balkon, lasse mir den warmen Wind um die Ohren wehen und atme ein paar Mal tief durch. Im Hintergrund läuft Dido auf meinem Laptop: „There will be no white flag upon my door.“

Dann packe ich zusammen und fahre los:

Bonn zieht sich eine Ewigkeit, ich brauche fast eine Stunde, um aus der Stadt raus zu sein. Aber schön ist Bonn dann irgendwo doch da an der Promenade. Ach, Gevatter Rhein! Wie wenig du gerade von dir zeigst! Es hat seit Wochen kaum geregnet, es herrscht eine der schwersten Dürren in diesem Land seit Jahrzehnten, und davon werde ich unterwegs wohl noch einiges zu spüren bekommen.

Kurz hinter Remagen ist dann die Brücke über die Ahr weg. Die Flut vor fast genau einem Jahr hat sie, wie so vieles Andere, einfach mitgerissen. 140 Menschen starben in der Nacht in etwas, von dem wir dachten, dass es uns nicht mehr passieren könnte. Dabei dürften es erst die Vorboten dessen gewesen sein, was wohl traurige Realität werden wird: unsere Sorglosigkeit hat uns eingeholt.

Weil das Flussbett durch die Dürre fast ausgetrocknet ist, trippeln die Leute über eine Reihe von Steinen und schieben ihr Rad dabei. Das ist die improvisierte Brücke. Take it or leave it. Ich gehe natürlich auch darüber und hole mir dabei einen nassen Fuß. Aber es ist warm, das Wasser wie die Luft. Es macht nichts.

Der Weg dahinter ist holprig und eigentlich abgesperrt, aber was heißt das schon. Zwei Frauen und ich schlagen sich durch. Wir sind gerade aus dem Gehege raus, da kommt ein Mann von der Seite angefahren und ruft sehr laut: „Das scheint mir kein guter Weg nach Remagen zu sein!!!“

Ich habe mir vorgenommen, solchen Leuten nicht mehr zu antworten. Ist das einer von denen, die gerne Sheriff spielen wollen, will er Beserwisser spielen oder provozieren? Es klingt für mich so. Zumindest, bis er ein „Oder?“ hinterher schiebt. Vielleicht wollte er wirklich nur wissen, ob man da langfahren kann. Aber dann soll er danach fragen, wie jeder Andere auch!

Ich bin noch nicht ganz angekommen im Urlaub, scheint es, aber ich komme gut voran, die Gegend bin ich vor zwei Jahren auf dem Weg in die Schweiz schon einmal abgefahren. Aber ich bin nicht gut drauf, irgendwie emotional. Ich vermisse Kristine, mit der ich hier mal im Auto langfahren bin. Das ist alles grandios schief gegangen mit uns. Ach verdammt… Was, wenn meine innere Stimme doch recht hatte?

Aber Radfahren hilft und ich erinnere mich an frühere Fahrten. Zu Beginn das Gedankenchaos. Aber irgendwann, so nach 3-4 Stunden am 1. Tag, hört das für gewöhnlich auf.

Was auch mit der Grund dafür ist, dass ich noch weiterfahren möchte, als ich gegen 1700 Uhr bei Kilometer 70 schon Koblenz erreiche und am gleichen Zeltplatz vorbei komme, bei dem ich vor zwei Jahren abgestiegen war, direkt am Deutschen Eck:

Ich bin schon überraschend kaputt, doch das kann auch schlicht daran liegen, dass ich bis hierhin noch gar keine Pause eingelegt habe, wie mir jetzt erst auffällt. Die mache ich dann hier, schleiche mich kurz auf den Zeltplatz, um meine Wasserflasche wieder aufzufüllen. Dann fahre ich weiter. Es ist noch zu früh, um jetzt schon irgendwo anzukommen.

Im Süden von Koblenz verirre ich mich auf dem Weg zurück zum Rhein, finde den Radweg wieder und plötzlich kommen mir Scharen von Fußballfans entgegen, Bielefelder Fußballfans.

Am Stadion dann surreale Szenen. Das Spiel scheint sich dem Ende zu zu neigen, ich habe keine Ahnung wie es steht, aber die Bielefelder Fans mit T-Shirts, auf denen „Ultras“ steht, sind ruhig. Besoffen aber ruhig. Sie scheinen zu gewinnen. Etwa zehn Polizisten stehen in Zweierreihen abwartend daneben. Ich rolle langsam an dem bizarren Geschehen vorbei.

(Nachtrag: Es war der FV Engers 07, ein Fünftligist aus der Nähe, der sich für den DFB-Pokal qualifiziert und für das Spiel das Koblenzer Stadion ausgeliehen hatte. Der Zweitligist Bielefeld gewinnt allerdings erwartungsgemäß mit 7:1.)

Aber hier wird die Gegend dann richtig schön, denn es kommt die Burgenromantik. Ich mache viele kitschige Fotos vom UNESCO Weltkulturerbe:

Aber das Gedankenchaos kommt zurück: „Warum bist du immer alleine, warum vermasselst du alle deine Beziehungen, warum bist du immer so unschlüssig bei allem?“

Tja, wenn ich das wüsste…

Direkt unter der Lorelei ist ein Campingplatz, sehe ich auf Google Maps. Das wäre doch chefig und trashig zugleich, hier unterzukommen, denke ich mir. Ist bestimmt voll, aber fragen tust du!

Und siehe da: es ist noch massig Platz. „Sie können sich aussuchen, wo Sie das Zelt aufschlagen“, sagt der Rezeptionist, als ich gegen 1900 Uhr dort eintreffe. „Nur die erste Reihe ist reserviert.“

Hier reiht sich in der Tat Wohnmobil an Wohnmobil, in der Mehrzahl aus Nederland. Aber ich finde tatsächlich noch einen freien Platz auf einer einsamen Wiese mit direktem Loreley-Blick. Hier lasse ich mich nieder und schlage das Lager auf. Heute ist mir nicht nach Menschen:

Bis mir dann irgendwann doch noch nach Menschen ist. Nachdem ich alles aufgebaut und dabei das Deutschland-Spiel auf dem Handy gestreamt habe, nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und spreche meine niederländischen Nachbarn (ein altes Ehepaar) auf Niederländisch an: „Goedenavond, hoe gaat het me jullie?“ Seit zwei Jahren nach einem kurzen Urlaub dort lerne ich die Sprache, aber ich komme nicht wirklich voran. Mir fehlt die Praxis. Aber Camper sind ja eigentlich meist offen, denke ich mir, und dass Niederländer oft auf Campingplätzen zu finden sind, ist mehr als ein Klischee. Es ist die Wahrheit.

Und dann wird es ein nettes Gespräch. Sie freuen sich offensichtlich, dass ich sie auf ihrer eigenen Sprache angesprochen habe, aber streamen nebenbei weiter das Finale auf dem Tablet. Wie übrigens die allermeisten hier auf dem Platz. Die deutschen Fußballfrauen erleben in diesen Tagen ihren medialen Durchbruch. Schon das Halbfinale verfolgten Millionen, und jetzt steht das Team von Martina Voss-Tecklenburg im Finale gegen England – und endlich mal fiebern alle mit.

Mit dem Mann komme ich aber doch noch ins Gespräch. Er merkt, dass ich nicht viel verstehe und verwendet einfachere Begriffe. Ich tue mich sehr schwer, aber schaffe es, ganz Sätze zu formulieren und verstehe auch das meiste, was er sagt. Irgendwann bedanke ich mich und versuche, den beiden noch einen schönen Abend zu wünschen, was misslingt, aber nichts macht.

Hinterher muss ich strahlen wie ein Honigkuchenpferd. Ich schlendere über den Platz und jeder Zweite grüßt mich freundlich. Grüßt man Menschen eher, wenn sie lächeln? ?

Deutschland verliert das Spiel in der Verlängerung (sehr schade). Ich beschließe, nur noch diesen Text zu schreiben und dann schlafen zu gehen. Und das tue ich dann auch.

Notizen:

Day-Challenge: mich nicht über andere Verkehrsteilnehmer aufregen, selbst wenn sie als Fußgänger zu viert nebeneinander auf dem Radweg laufen. War anstrengend aber hat funktionieren müssen, auch weil meine Klingel zwischendurch den Geist aufgibt und ich die Leute dann mündlich bitten muss zur Seite zu gehen.

Der Gerät: Ich mache auf dieser Tour alles mit dem Smartphone: Fotos, Bloggen, Musikhören, EM-Finale der Frauen live streamen, den Weg finden… Schade dass es langsam ist, aber zumindest der Akku scheint was zu taugen. Hat immer noch 25 Prozent.

Luma: Meine alte Luftmatratze hatte Rock am Ring nicht überlebt. Sie war schwer aufzupusten aber unfassbar komfortabel, deswegen habe ich sie mir noch einmal bestellt. Und siehe da: der Hersteller hat das Aufblasventil verbessert. Aufpusten geht jetzt binnen einer Minute statt vorher so drei bis vier. How cool is that!

Merino: Stinkt ja nicht oder erst nach Tagen. Überlege deswegen jetzt ernsthaft, das gleiche Shirt, das ich auf der Fahrt anhatte und jetzt tatsächlich immer noch trage, auch zum Schlafen anzuziehen. Vielleicht ist mir dafür aber alleine der Gedanke zu fies…

Könnte laut werden heute Nacht. Züge, Autos, Partyschiffe, vor allem aber Lastkähne brummen hier vorbei. Aber wird schon – ich bin todmüde.

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