Der Beitrag hier ist mehr eine Erinnerung an mein Future-Self, wenn ich noch einmal auf Bikepacking-Tour gehen und dann schnell packen möchte. Sie kann natürlich auch jedem/r als Grundlage dienen, der/die das Gleiche vorhat – wobei die Ansprüche und Vorlieben natürlich völlig individuell sind, weiß ich auch. Alors, Folgendes habe ich eingepackt (oder beim Start getragen) und benutzt:
1 E-Bike mit Stangentasche, Handyhalterung und Kettenschloss
1 Kulturtasche mit Zahnbürste, Zahnpasta, Zahnseide, Aufbissschiene, Duschgel, Shampoo, Sonnencreme (LSF 50), Franzbranntwein, Lippenbalsam, Gesichtscreme (geht auch für andere trockene Körperstellen), Deocreme, Anti-Histaminikum, Magnesium-Granulat, Vitamin-Kapseln, Nagelknipser, normales Flüssigwaschmittel (umgefüllt, kein Rei in der Tube!)
Ich habe Kleidung nach Komfort eingepackt: Mehr bedeutet: weniger oft waschen und damit mehr Urlaub – obwohl erstaunlich viele Campingplätze auch eine Waschmaschine haben. Das Zauberwort heißt: Merino. Mit den beiden Shirts kam ich wunderbar für mehrere Tage aus. Riechen nicht, halten warm, halten kühl. Eventuell macht ein Drittes noch Sinn. Das Smartphone dient als Navi, Kamera, Computer, Jukebox und als Taschenlampe.
Unterwegs gekauft:
1 Anti-Mücken-Spray
1 Notizblock und Stift (1x benutzt)
2 zusätzliche FFP2-Masken
1 weiteres Ladekabel mit USB-A zu USB-C
1 Rolle großer Mülltüten als Regenschutz für die Reisetasche
2 Mikrofasertücher
1 Bremsenreiniger
1 Doppelhub-Mini-Luftpumpe
1 Reifendicht-Notfallschaum
1 Packung Fisherman’s Friends
1 Weitere Tube Sonnencreme (braucht man sehr viel von!)
1 Halstuch
Zu essen und zu trinken
Man kann nicht an alles denken. Aber fährt man durch ein dicht besiedeltes, reiches Land, findet man viele Supermärkte, in denen man alles kaufen kann. Supermärkte sind ohnehin unterschätzte Errungenschaften der Zivilisation, wenn ihr mich fragt.
Würde ich beim nächsten Mal noch mitnehmen:
Akku-Luftpumpe für Rad und Luftmatratze
Anti-Mücken-Kerze im Glas (gegen die Blutsauger UND für ein wenig Romantik vor dem Zelt)
Feuerzeug
Tigerbalsam
Evtl. Mini-Campingkocher mit integriertem Kaffeeaufsatz + Kaffee (nur für das Caminggefühl)
Regenschirm
Mitgenommen und nicht benutzt:
Regenjacke
Regenponcho
Regen-Überschuhe
Heringe
Reise-Wäscheleine
Reise-Wäscheklammern
First Aid Kit (Mini)
Muss aber vermutlich alles für den Notfall doch wieder mit.
Ich packe recht früh zusammen, heute muss ja alles nur noch zusammengestopft werden. Die Verkäuferin im Campingplatzkiosk erkennt mit geübtem Auge, dass ich mein Schokobrötchen vor Ort essen möchte und hat noch ein Lächeln dabei auf dem Lippen. Das unterstreicht zwei Erkenntnisse meiner Reise: Servicepersonal leistet Unglaubliches für dieses Land, und: ich habe mich abscheulich schlecht ernährt, die letzten drei Wochen. Aber jetzt wieder Gemüse.
In Westerland komme ich überraschend problemlos mit dem Rad in die gut besetzte Bahn nach Hamburg. Dort angekommen, kaufe ich ein Brötchen, um Wechselgeld für ein Schließfach zu bekommen. Sie habe kaum noch Münzgeld, bedauert die Verkäuferin. Jeder wolle welches für das uralte Bahnschließfach. „Oh“, sage ich, und wir schauen uns eine Weile lauernd und mit verschmitztem Lächeln an. „Ich bekomme vielleicht doch noch was zusammen“, antwortet sie dann nach einem Blick in die Kasse.
Servicepersonal. Unglaubliches!
Als ich das Brötchen für später wegpacke und dann erst einmal beim Inder was esse, belausche ich ein Gespräch am Nachbartisch. Er sei Journalist, sagt der Wortführer, und der Journalismus in diesem Land werde eigentlich nur noch von Idealismus getragen. Das Gehaltsgefälle wäre die typische Schere zwischen Arm und Reich. Er hatte bei einem öffentlich-rechtlichen Sender für Drei gearbeitet, damit es mit dem Geld reiche. Die Kostenschubser im Sender hätten dann nur gesehen: der verdient zu viel und muss eingespart werden. Auf der anderen Seite lief der Fall der mittlerweile zurückgetretenen RBB-Intendantin Patricia Schlesinger die letzten Wochen durch die – nun ja – Medien. Ihre 300.000 im Jahr hatten ihr offenbar immer noch nicht gereicht. Wird der Mensch gierig, sobald er viel hat?
Weil ich nichts Besseres vorhabe, trinke ich danach einen Kaffee und gehe an der Reeperbahn ein Set Craftbeer testen. Ich müsste an einem Tisch alleine sitzen, aber Gesellschaft wäre mir lieber. Ich frage ein Pärchen aus Berlin, ob ich mich dazu setzen darf. Darf ich. Das Bier wirkt dann derart stark, dass ich mein Fahrrad erst einmal runter zum Wasser schiebe. Ich lande vor einem Museums-Uboot, interessiere mich dafür, wie es darin aussieht, buche eine Tour, nehme sie, fahre zurück zum Bahnhof Altona und kaufe mir noch ein Filet-o-Fish beim McDonalds. In Hamburg muss Fischbrötchen! Aber es gibt dort im Bahnhof tatsächlich keine Fischbude. Ich hole mein Gepäck wieder aus dem Schließfach und schiebe mein Fahrrad in den IC.
In Bremen kommt die Durchsage, dass wir 100 (!) Minuten auf neues Zugpersonal warten müssten. Alle um mich herum sind verärgert. Ich bin völlig ruhig – ist das die Urlaubsentspannung? Ich steige nach einer Weile aus, genieße die maskenfreie Frischluft am Gleis, spaziere durch den Bremer Bahnhof und setze mich eine Weile vor die Messe am Hinterausgang.
Als ich wiederkomme, ist Chaos am Gleis. Zusätzlich zum verspäteten Zugpersonal gibt es jetzt auch noch eine Gleisstörung; alle Regionalzüge sind gestrichen. Ich versuche, Infos bei einem Bahnmitarbeiter am Gleis einzuholen, aber der weiß auch nichts. Ein Mann, der nur gebrochen Deutsch spricht, fragt mich nach seinem Zug. Ich kann ihm nur auf Deutsch und Englisch das Dilemma erklären.
Ein Anderer in einem Liegefahrrad muss noch ins Rheinland. Er hat nur einen Schwerbehinderten-Ticket. Wir kommen ins Gespräch. Er hat auch Zelt und Luma dabei, ist auf Tour, campt manchmal wild. Der Bahnmitarbeiter hat keine neuen Infos.
Wir fragen ihn, ob es in Ordnung wäre, mit dem Schwerbehindertenausweis ausnahmsweise einen IC zu benutzen. Der Bahnmitarbeiter ist unsicher, sagt, das läge im Ermessen des neuen Zugpersonals. Aber das sei noch nicht eingetroffen.
Als es da ist, fangen wir den Zugchef ab, aber der stellt sich quer. „Mit dem Fahrrad? Ausgeschlossen!“ Das wäre viel zu groß und passe nicht in den Stellplatz. Aber das Abteil wäre noch fast leer und das Rad ließe sich anders sichern, argumentieren wir. Nein, nichts zu machen, sagt der Zugchef.
Im gleichen Moment spricht mich eine Afrikanerin an, ob der ICE gegenüber nach Köln fahre. Warum fragen alle mich? Ich helfe. Wir kriegen sie gerade noch rechtzeitig in den richtigen Zug. Den Rest des Gesprächs zwischen dem Mann im Liegefahrrad und dem Zugchef bekomme ich deswegen nicht mehr mit. Aber er ist offenbar bei seinem Nein geblieben. Dem sei es darum gegangen, dass alles seine Ordnung habe, sagt der Mann im Liegefahrrad resigniert.
Ich ärgere mich, mir fällt nichts ein, wie ich ihn noch helfen könnte. Wäre schon okay, sagt er, er würde schon irgendwas finden zum wild Campen. Es klingt wie: unter der Brücke schlafen. Er bedankt sich bei mir und nennt mich einen guten Menschen. Er sei in der Partei „Die Basis“ und habe da unheimlich nette Leute kennengelernt. Dass es Menschen wie mich gäbe, helfe ihm auch darüber hinaus, die Hoffnung nicht zu verlieren.
Seine politische Gesinnung ist mir in dem Moment egal. Er ist mir sympathisch, und ich hätte gerne mehr für ihn getan. Vielleicht darf man sich auch nicht wundern, wenn der eine oder andere, der „wild campen“ muss, damit die Ordnung aufrecht erhalten wird, in eine ungute politische Ecke abdriftet.
Aber ich ein guter Mensch? Ich habe unterwegs viele getroffen, die mir und anderen vorbehaltlos geholfen haben, selbst als sie eigentlich gerade etwas Dringenderes zu tun hatten. Die würde ich als solche bezeichnen. Für mich selbst ist es dahin noch ein weiter Weg.
Drei Wochen lang war ich unterwegs. Die Nachrichten habe ich in dieser Zeit nur am Rande verfolgt. Immer wenn ich doch mal tagesschau.de besucht oder in einem Kiosk die Titelseiten der Zeitungen gesehen habe, ging es um Gaspreise. Und wenig bis gar nicht um den grausamen Krieg, der die Ursache dafür ist. So ist der Deutsche eben auch: er kreist in erster Linie um sich selbst – und kann unendlich hilfsbereit, reflektiert und freundlich sein, wenn man es dann doch aus ihm herauskitzelt.
Wir stehen vor einer ungewissen Zukunft und leben in einem Land, das seine Rolle in der Welt immer noch nicht ganz gefunden hat. Es könnte schlimmer sein, es könnte besser. Sollte es hart auf hart kommen, wird Deutschland wohl als eins der letzten Länder untergehen.
Als ich nachts um 0200 endlich Bonn erreiche und mein Rad aus dem Fahrstuhl schiebe, glaube ich meinen Augen kaum zu trauen: Es regnet leicht. So werde ich auf den letzten Metern meiner Tour zum ersten Mal ein wenig nass.
Ich lasse die Regenjacke in der Tasche und fahre los.
Nackt plansche ich auf dem einsamen Strand, hüpfe wie ein kleines Kind im Wasser herum. Zum Glück muss sich das unwürdige Schauspiel niemand anssehen. Die Game-of-Thrones-mäßige Stadt in Bayern und jetzt dieser einsame Strand auf Sylt. Es gibt sie also doch noch, die Orte, die von der Instacommunity noch nicht überrannt werden.
Ich bin mutterseelenallein an diesem Strand – bis ich es plötzlich nicht mehr bin. Ein anderer Typ kommt durch die Dünen und sucht etwas, vermutlich auch den nördlichsten Punkt Deutschlands. Nachdem er eine Weile gesucht hat, sieht er ihn, läuft dorthin und tanzt wie ein Irrer darum herum. So ähnlich wie das, was ich auch gerade gemacht habe. Ich bin zwar nicht alleine, aber irgendwie sind wir doch alle verbunden.
So, wie ich es viele Jahre nicht war. Immer auf der Suche nach etwas, meistens einem Seelenpartner, den ich, nach langer Suche gefunden, dann meist ebenso schnell wieder in die Wüste geschickt habe. Nicht die Richtige, passt irgendwie doch nicht, nicht die, mit der ich gerne alt werden würde oder irgendwelche anderen vorgeschobenen Gründe. Und am Ende beiderseits gebrochene Herzen, weil man verliebter war, als man es sich eingestanden hatte.
Beziehungsvermeider nennen Psychologen so etwas. Solche Menschen sehnen sich mehr als andere nach einer glücklichen Beziehung, finden lange keine und wenn dann doch endlich, dann fürchten sie um ihre Freiheit, beginnen, der Sache nicht zu trauen und tun schließlich alles dafür, die Beziehung zu sabotieren. Bis es schließlich gelingt, man sich einsam fühlt, dazu ein gebrochenes Herz hat, der Sache hinterhertrauert und der ganze Mist wieder von vorne beginnt.
Was ist die Lösung da raus? Mir hilft es zu wandern, radzufahren, meine Gedanken dabei zu sortieren, ganz bei mir zu sein, hin und wieder mit fremden Menschen zu reden und dabei einfach nur mal zuzuhören. Mich nicht darum zu kümmern, was irgendjemand von mir denkt, öfter mal einfach zu tun, wonach mir gerade ist und alles ein Stück weit weniger zu durchdenken.
Vielleicht hat mir die Reise mir ein wenig dabei geholfen, unvoreingenommener und liebevoller zu sein, mir selbst, aber auch anderen gegenüber.
Ich ziehe mich wieder an, schiebe mein Rad durch den Sand und bin schon bald wieder in den Dünen, in denen die Heide blüht. Das Allgäu und Sylt – die südlichste und die nördlichste Region sind auch gleichzeitig die beiden schönsten Gegenden, die ich auf meiner Reise gesehen habe. Aber all das hätte ich nicht erkannt, hätte ich nicht auch das Land dazwischen gesehen und tolle Menschen unterwegs getroffen.
Bei dem Wind ist mir in kurzer Hose und T-Shirt langsam bitterkalt. Aber die Aussicht auf ein letztes Abendessen und ein leckeres Bier in Westerland helfen mir durchzuhalten. Ich muss mich nicht unter die Reichen und Schönen dort mischen; die sollen ihr Ding machen, ich meins. Aber ein kleiner Abschluss der Reise wäre toll.
Ich habe Glück. Der Gosch am Strand verkauft mir noch ein Schollenfilet und ein Pils. Dicht in eine Decke gehüllt, schreibe ich die Gedanken des Tages nieder, packe dann aber bald zusammen, spende mein restliches Münzgeld einer Gruppe der Westerland-Punks, die nebenan zu „Griechischer Wein“ eine Tanzparodie auf den Asphalt bringen. Sie glauben, sie wären frei, aber sie sind es auch nicht.
Zurück am Zelt ziehe ich mich warm an, setze mich auf meinen Campingstuhl und blicke für eine Zeit nur in den milchigen Nachthimmel, und es ist richtig schön. Es ist weit nach Mitternacht. In dem einen oder anderen Zelt brennt noch Licht, jemand schnarcht. Ich bin alleine und bin es doch nicht. Endlich ein wenig Zeit für Gedanken, schöne Gedanken.
Es regnet tatsächlich die halbe Nacht durch, aber dann ist es auch gut. Mein Zelt hat dicht gehalten. Am Abend, als einige Tropfen auf meinen Kopf fielen, hatte ich da noch so meine Zweifel.
Meine Zeltnachbarn im Wohnmobil machen sich schon um 0700 lautstark auf den Weg und wecken mich damit. Ich drehe mich nochmal um, starte eine Meditation, stehe dann ganz langsam auf, mache mich fertig, packe das nasse Zelt ein, checke aus, und es ist dann trotzdem erst 0900.
Nasse Zelte sind ein Thema für sich. Idealerweise würde man so bis 1200 Uhr warten, bis im Sonnenschein alles getrocknet ist, aber dann wäre der halbe Tag rum. Deswegen packt man morgens doch lieber das nasse, allenfalls grob getrocknete Zelt ein. Ist nicht hübsch, muss aber irgendwie gehen. Es entglorifiziert allenfalls das etwas romantisierte „Im Frühtau zu Berge“. Das ist als Pilger oder Radwanderer mit Zelt einfach nur fies und unangenehm und sonst nichts.
Ich habe gestern gar nicht groß geschaut, wo ich eigentlich genau bin, und stelle dann morgens fest, dass es direkt neben dem Hafen ist, von wo die Fähren nach Föhr und Amrum abfahren. Den Anleger schaue ich mir noch an, und ein Teil von mir würde am liebsten direkt mitfahren. Aber das wäre nicht das Ziel dieser Reise.
Was ist eigentlich das Ziel dieser Reise? Neben dem Unterwegssein, dem Abbauen von Ängsten und dem Kennenlernen von Menschen ein wenig noch herauszufinden, wo es in diesem Land schön ist, wo man vielleicht das nächste Mal hinfährt, um es sich noch etwas genauer anzuschauen. Der reflexartige Gedanke an ein Flugzeug, wenn es in den Urlaub gehen soll – Zukunft hat der eh nicht.
Nach einem schwarzen Kaffee im Café nebenan (mir fehlt beim Intervallfasten in letzter Zeit immer nur eine halbe Stunde) ist es immer noch erst 0930. Ich habe noch ein wenig Lust auf Bewegung und beschließe, meinen optionalen letzten Abstecher doch noch zu machen.
Ich fahre nach Dänemark. Ein chinesisches Sprichwort, das ich nicht mehr ganz zusammen bekomme, lautet sinngemäß: du weißt erst, wie es bei dir aussieht, wenn du dein Haus vom Anwesen deines Nachbarn aus gesehen hast. Und so möchte ich zumindest kurz über die Grenze hüpfen, um mir die Unterschiede anzuschauen, in die Kleinstadt Tønder.
Schon kurz vor der Grenze reiht sich dänischer Supermarkt an dänischen Supermarkt. Ich schaue rein, würde Brötchen kaufen, aber finde keine und shoppe statt dessen ein paar Haribo. Die Verkäuferin wechselt von akzentfreiem Dänisch auf akzentfreies Deutsch. Bemerkenswert.
Direkt hinter der Grenze wird der Radweg besser, die Häuser haben noch eine ganz andere Form, die Leute hissen mehr Nationalflaggen. Eine Blechlawine schiebt sich aber auch hier über die Hauptstraße, ein paar Transporter haben sogar fulminante Oldtimer geladen. Aber an den Nebenstraßen ist es gespenstisch still. Kurz vor dem Ort komme ich an Brombeersträuchern vorbei und pflücke mir ein paar.
Bromberen zu pflücken scheint in der Gegend weniger bekannt zu sein als in Deutschland. Vorbeifahrende Radfahrer gucken mich komisch an, sagen aber nichts. Und da fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Der Grund, warum ich manchmal sehr lange für Dinge brauche und manchmal gar nicht, ist mein inneres Versteckspiel. Ich versuche, bloß nicht aufzufallen, um mir keinen blöden Spruch einzufangen, weil das in meiner Jugend und meiner depressiven Phase oft passiert ist. Andere meinen, unsicher wirkenden Menschen eher mal einen blöden Spruch stecken zu können.
Heute ist das aber längst nicht mehr der Fall – außer, wenn ich auf Campingplätzen meine Luftmatratze aufpuste, da kommt meist gleich einer mit einer Pumpe angelaufen. Das ist aber eigentlich immer nett gemeint. Ich könnte diese innere Abwehr mal zum Schweigen bringen, denn ich bin längst aus dem Alter raus, in dem ich mir noch blöde Sprüche drücken lasse.
Nebenbei: Ich habe mich noch nie an Brombeeren satt gegessen. Ob ich das einfach mal versuche? Ich pflücke Dutzende und esse sie sofort. Aber es reicht nicht: Als ich kurz darauf in Tønder einen Hotdog-Stand sehe, also etwas typisch Dänisches, greife ich zu – und habe danach noch mehr Hunger als vorher.
Tønder ist klein, aber hat eine hübsche Fußgängerzone. Auf dem Weg raus komme ich an einem Kleingartenverein vorbei (sowas gibt es also da auch) und wieder durch ein Wohngebiet, das gespenstisch ruhig da liegt. Warum ist hier niemand?! In jedem deutschen Wohngebiet spielen auch tagsüber irgendwelche Kinder. Rentner und halbtags Arbeitende machen was an ihren Gärten. Hier ist niemand. Ich bin froh, als ich da wieder raus bin.
Aber für ein paar Erkenntnisse hat sich der kleine Umweg gelohnt. Und irgendwie wollte ich auch die wegen meiner Panne versäumten 40 Kilometer von Peine nach Hannover insgeheim noch irgendwie nachholen.
Es dauert nicht lange danach, und ich stehe am Bahnhof Klanxbüll. Wird das wohl klappen mit dem Fahrradtransport? Neben einigen Passagieren steht mit mir nur noch ein weiterer Typ mit einem Rennrad am Gleis. Aber Klanxbüll ist die letzte Station vor dem Damm. Niemand kann sagen, wie voll der Waggon schon ist. Als die Bahn kommt, ist das hintere Fahrradabteil völlig verwaist. Watt’n Glück.
Die Fahrt dauert nur wenige Minuten. Schon weit vor Westerland macht sich der Typ mit dem Rennrad wieder bereit. Und tatsächlich: es gibt einen Stopp direkt hinter dem Damm, an dem ich dann auch mit raus gehe: Morsum.
Die Überfahrt ist also geglückt, ich bin auf Sylt! Yeah! Das Wetter ist okay. Es ist wolkenverhangen, die ganze Zeit sieht es so aus, als würde es bald regnen, was dann aber nie passiert. Ich hatte unfassbares Glück und bin tatsächlich kein einziges Mal auf meiner Tour in einen Regenschauer geraten. Dabei hätte ich mir manchmal in der elendigen Hitze sogar einen herbei gewünscht.
Jetzt kommt aber langsam die Sonne raus und ich esse erstmal was, noch am Gleis stehend. Nach ein paar Minuten kommt ein älterer aber stabiler Herr schnellen Schrittes in meine Richtung. Was der wohl will. Ich rufe freundlich „moin“, als er auf meiner Höhe ist. Er aber geht an mir vorbei zu den Brombeerströuchern weiter hinten am Gleis und murmelt im Vorbeigehen: „E-Bike-Fahrer grüße ich grundsätzlich nicht.“
Das darf doch nicht wahr sein. 😅 Der erste Mensch, dem ich auf Sylt begegne, und er kommt mir gleich so. Ich hoffe mal, das ist Zufall und kein Vorgeschmack auf die Gepflogenheiten auf der Insel.
Die übrigens superschön ist. Küsten, Strände, zerklüftete Buchten, wunderbar erhaltene oder restaurierte Landhäuser, Dünen. Und just gerade blüht die Heide – beinahe schöner als in der Lüneburger Heide. Und noch dazu gibt es Strandkörbe, Restaurants, Partymöglichkeiten. Ja, ich kann den Hype um diese Insel verstehen!
Und was den E-Bike-Hasser von gerade angeht: ich zähle mit: die nächsten acht Radfahrer grüßen freundlich zurück. Im Gedächtnis bleibt natürlich trotzdem der frotzelige Kerl. Was mich kurzzeitig sogar veranlasst zu denken: „Wenn das hier so läuft, soll ich dann die Anderen überhaupt noch grüßen?“
Ich glaube, in der Kindheit und Jugend begeht man den Fehler nur all zu oft. Man fragt die Böckerei-Fachverkäuferin freundlich um eine Serviette. Die hat einen schlechten Tag oder mag keine Kinder, raunzt dich an, du schrickst zurück und speicherst völlig übertrieben die Generalisierung in deinem Kopf: „Verkäuferinnen nie um einen Gefallen bitten, die mögen das nicht.“ Später bekommst du bei jedem Besuch einer Bäckerei ein mulmiges Gefühl. Solche Glaubenssätze sollte man nach und nach überschreiben. Danke, mürrischer E-Bike-Hasser für diesen Anstoß!
Gegen 1500 schlage ich am Zeltplatz auf und bekomme von der sehr hübschen, sehr netten und sehr hilfsbereiten (und leider schon einen Ring tragenden 😉 Rezeptionistin mitgeteilt, dass auf dem Platz 4 Übernachtungen Minimum vorgeschrieben wären. Vier?!
Aber ich bin so gut drauf heute, dass nichts das ehrliche Lächeln auf meinem Gesicht wegzaubern kann. Ich sage schon „danke“ und wende mich zum Gehen, als die Rezeptionistin mich noch aufhält: warten Sie mal bitte kurz. Sie redet dann mit ihrer Kollegin, ich lasse mein charmantestes Lächeln aufgesetzt. Und das Ende vom Lied ist: ich darf doch nur für einen Tag bleiben. Zum zweiten Mal heute: Yeah!
Der Zeltplatz liegt in den Dünen. Es ist so windig, dass mein noch nass eingepacktes Zelt, einmal aufgebaut, schon 15 Minuten später getrocknet ist. Ich mache einen kurzen Nachmittagsschlaf, dann packe ich ein paar Sachen zusammen, denn es wartet noch die finale Tour: in den äußersten Norden zum nördlichsten Punkt Deutschlands.
Gegen 1700 komme ich los und merke unterwegs erst, wie schön die Insel wirklich ist. Nicht nur, weil die Heide blüht. Die Landschaft verändert sich auch alle paar Kilometer. Plötzlich meine ich, auf Island zu sein. Die Gegend erinnert mich stark daran.
Ich fahre das letzte Stück ohne Motor. Und es ist noch einmal richtig anstrengend. Ich habe Gegenwind, es geht bergauf, die Wegstrecke in den Lister Ellenbogen ist richtig mies, gleicht einem Flickenteppich. Das Navi leitet mich völlig fehl, und am Ende fahre ich deswegen fast 5 km zu viel. Und dann am Schluss endet der befestigte Weg ganz und wird zu Sand.
Ich könnte mein Fahrrad stehen lassen und den Rest zu Fuß gehen. Aber ich schiebe es durch die Dünen. Wir haben diesen Weg gemeinsam zurückgelegt. Jetzt gehen wir auch den Rest zusammen. Drei Dünen später sehe ich das Meer und in etwa dreihundert Metern Entfernung: der nördlichste Punkt Deutschlands! Ich bin am Ziel meiner langen Reise:
Und wie Beate gestern (war es wirklich erst gestern?!) prophezeite, ist der Strand menschenleer. Soll ich…?!
Davor warnt ein Schild: hier wegen nicht geräumter Braken, gefährlicher Strömungen und keinerlei Rettungsaufsicht auf keinen Fall schwimmen gehen. Aber mich halten sie nicht davon ab, ein wenig in den Wellen zu planschen.
Ich wache mit einem Brummschädel auf, und alles ist nass von Nebel, Morgentau und Schwitzwasser. Dazu begrüßt mich Robert aus Amsterdam mit einem lauten „goedemorgen!“ und noch etwas Unverständlichem auf Niederländisch, kaum habe ich das Zelt zum Lüften aufgemacht. Ich erwidere schwach seinen Gruß, dann lege ich mich einfach wieder hin, um eine Meditation zu starten. Auf Robert habe ich jetzt keine Lust. Richtig andächtig kann ich der Meditation dann aber nicht lauschen, denn Robert hat sich statt meiner den Franzosen geschnappt, der mit uns zeltet. Und ihr Smalltalk wird laut.
Der Franzose ist anfangs clever und antwortet auf Roberts streng platonische Annäherungsversuche auf Französisch nur mit einem „Ok“. Später wechseln sie auf Englisch und ab da hat Robert ihn so weit, dass er da so schnell nicht mehr raus kommt. Ich nutze die Chance und baue schnell mein Zelt ab. Eins muss man Robert natürlich lassen.: Er spricht mindestens drei Fremdsprachen fließend. Respekt!
Ganz komme ich um ein paar niederländische Abschiedsgrüße – die prompt korrigiert werden – natürlich nicht herum. Robert sagt, ich erinnere ihn an Nico Hülkenberg. Der frühere Formel-1-Rennfahrer wuchs in Emmerich auf, spricht fließend Niederländisch mit deutschem Akzent und gab schon Interviews auf Niederländisch für das dortige Fernsehen. Wenn ein Deutscher Niederländisch spricht, scheint das genauso ulkig – oder sogar niedlich – zu klingen wie umgekehrt. Mal sehen, ob und wie ich das noch zu meinem Vorteil nutzen kann. 😉
Als ich mich dann mit einem „tot ziens“ verabschiede und losrolle, bin ich guter Dinge. Etwa 120 km sind es noch bis Klanxbüll, von wo die Bahn rüberfährt. Theoretisch könnte ich also schon heute Abend auf Sylt sein.
Büsum
Praktisch mache ich erst einmal einen Umweg über Büsum (sehr hübsch) und dann nach Husum (auch), wo ich einen Kaffee trinke und kurz einkaufen gehe. Ich kaufe in einem Blumengeschäft einen Topf Chrysanthemen (aha, ausgerechnet da funktionierst du mal nicht, du ansonsten völlig übermotivierte Autokorrektur… 🙄) und im Aldi ein wenig Verpflegung für später.
An der Nachbarkasse gibt es Stunk. Ein Kunde aus Somalia (das wiederholt er mehrmals) behauptet, für seine Bierdosen nicht genug Wechselgeld bekommen zu haben, beschwert sich lautstark auf Englisch, will sich nicht beruhigen und vor allem: keinen Meter von der Kasse fortbewegen. Die Kassiererin und der Kunde hinter ihm reden mit ihm. Die Filialleiterin kommt hinzu, versucht den Konflikt zu lösen, schafft es nicht, droht, die Polizei zu rufen und tut es dann.
Es wirkt surreal. An der Nachbarkasse, an der ich stehe, geht der Verkauf einfach weiter als wäre nichts. Und die übrigen Kunden stehen vor dem klassischen Was-tun-Dilemma. Man hat hinten am Band oder auf der anderen Seite der Kasse gar nicht richtig mitbekommen, was genau passiert ist und wer hier wohl im Recht ist. Ich höre nur ein „don’t touch me“, „calm down“, „yeah, call the police!“ und „you’re ruining my life“.
Weil ich jetzt auch nicht der Fünfte sein will, der sich noch einmischt, weiß ich nichts Besseres zu tun als einfach zu gehen. Draußen packe ich meine Sachen ein und sehe den Polizeiwagen vorfahren. Als ich so weit bin, sehe ich, wie zwei Polizisten und eine Polizistin den Mann mit nach draußen genommen haben und ihn dort befragen. Es wirkt friedlich. Ein Polizist redet mit dem Mann, der noch recht aufgebracht wirkt. Seine Bierdosen hat er bei sich. Ich schaue mir das Ganze noch eine kurze Weile an, dann fahre ich weiter.
Die Blumen sind für Beate und Peter. Die älteren Leser:innen unter euch erinnern sich noch: Ich habe die beiden recht früh am Anfang meiner Tour in Nordbayern auf einem Campingplatz getroffen. Sie haben mir geholfen, meine Wäsche aus der Maschine zu befreien und mich dann nach einem kurzen Plausch zu sich nach Hattstedt bei Husum eingeladen. „Wenn du da vorbei kommst, kannst du gerne bei uns übernachten.“
Das fand ich etwas zu viel der Nettigkeit – ich will ja keine Umstände machen. Außerdem will ich es ganz ehrlich heute noch etwas weiter schaffen als Hattstedt. Aber ich hatte mir fest vorgenommen, wenigstens eben zu klingeln und hallo zu sagen, wenn ich durch den Ort komme. Wir haben gestern noch telefoniert. Sie sagten, sie wären nachmittags wahrscheinlich noch auf Arbeit, und ich komme gegen 1530 dort vorbei. Also beschließe ich, die Blumen vor der Eingangstür zu drapieren und eine kleine Notiz mit einem Gruß dazulassen. Doch als ich das Haus erreiche, steht Beate im Garten und werkelt am Efeu. Na sowas!
Ich werde in die Gartenlaube gebeten. Wir trinken was und unterhalten uns über unsere Reisen. Wenig später kommt auch Peter dazu, wir trinken Kaffee und reden über die Arbeit und das Leben. Beide wirken auf mich entspannt und lebenslustig. Neben ihrem Camper steht auch ein Sportwagen im Carport. Peter arbeitet tatsächlich für einen Hersteller für Wohnmobile in der Produktion, Beate im Krankenhaus. Sie fahren gerne Rad, wandern oder gehen an den Strand. Sie wohnen da, wo andere Urlaub machen – sagen sie selbst. Und sie scheinen das Leben zu genießen.
Es wird Fünf und es ist sehr nett. Beate schlägt vor, dass wir uns etwas zu essen bestellen. Aber ich weiß, so schön es gerade ist: wenn ich noch zum Essen bleibe, komme ich da heute nicht mehr weg. Was ich eigentlich gar nicht zwingend müsste, sagt mein Herz. Aber diesmal beschließe ich, auf den Kopf zu hören, der „weiterfahren“ sagt. Sonst wird es knapp mit Sylt.
Und heute bin ich zwar lange, aber eigentlich mal ganz fit unterwegs. Dabei habe ich am Morgen sogar beschlossen, den Motor heute nur dann anzuschalten, wenn es gar nicht mehr anders geht. Nicht immer den bequemen Weg gehen! Was ist denn das auch für eine Einstellung!
Die Strecke führt viel hinter den Dünen entlang, was angenehm ist und die Fahrt auch ohne Akku trotz des Windes möglich macht. Und dann sehe ich auch endlich mal das Meer:
Bisher war immer nur Ebbe gewesen. Schön dass sich das noch ändert.
Auf dem Weg zu meinem heutigen Tagesziel Dagebüll komme ich auch an der Hamburger Hallig vorbei (eine ehemalige Hallig, heute fast dauerhaft mit dem Festland verbunden) und mache einen kurzen Abstecher dahin:
Und noch etwas fällt mit auf: die Natur ist hier oben in einem deutlich besseren Zustand, dem besten, den ich auf meiner ganzen Tour gesehen habe. Alles ist deutlich grüner, das Gras ist saftig, das Vieh sieht glücklicher aus. Peter hatte das bei unserem Plausch schon kurz eingeworfen: „Hier hat es eigentlich sehr viel geregnet, die letzten Monate. Zum Beispiel den ganzen Februar hindurch.“ Die Eider etwas südlich von Husum wäre eine Art Wasserscheide und regnen würde es immer nur auf einer Seite davon, meist der nördlichen.
Heute zum Glück nicht. Ich komme trockenen Fußes nach Dagebüll. Und bin tatsächlich die ganze Strecke gegen den Wind ohne Motor gefahren. Yeah!
20 km sind es von hier noch bis Klanxbüll. Das ist die letzte Station, in die man in eine Bahn nach Westerland auf Sylt einsteigen kann. Und wenn meine Informationen stimmen, kommt man als Radfahrer zumindest ganz hier oben nicht mehr anders auf die Insel.
Also Klanxbüll mit dem Rad (wenn ich nicht vorher doch noch einen kleinen Abstecher mache), nach Westerland mit der Bahn, dort die fünf Campingplätze nach freien Plätzen abgrasen und vielleicht schon dabei einmal die Insel erkunden. Alle, die ich dazu fragte, sagten mir, man käme ganz einfach mit dem Rad in eine der Bahnen, weil da kaum jemand sein Fahrrad mitnähme. Das kann ich irgendwie nicht so ganz glauben…
Regnen soll es heute angeblich die halbe Nacht durch, wofür dann morgen wieder gutes Wetter ist. Machen wir so!
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Notizen
Gleich zum Start meiner Tour in Bayern dachte ich: „Du musst dir unbedingt ein Halstuch kaufen!“ Ich schwitze viel am Hals, bekomme schnell Nackenprobleme durch den Fahrtwind, wenn auch immer nur links.
Dann fand ich ewig keinen Laden und gab die Idee irgendwann dran. Mein Mikrofaser-Handtuch musste als Ersatz herhalten, was einerseits natürlich fies war und anderseits auch bisschen komisch ausgesehen haben muss. Na jedenfalls heute in Büsum habe ich einen Laden gesehen, der so etwas verkauft, mich sofort in eins verguckt und dann schnell geshoppt. Was sagt ihr: da haben sich doch zwei gefunden, oder? Wenn auch spät…
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Kurzgeschichten. Okay, viele schaffe ich noch nicht am Tag, da fehlt mir jetzt einfach die Zeit für. Aber mal richtig cool fand ich (heute beim 1. Kaffee gelesen) „Vorsicht Steinschlag“ von Thea Dorn. Googelt mal danach und lest das! Geht schnell, ist toll!
Ich wache früh auf und habe alle Zeit der Welt. Es hat nicht noch einmal geregnet, es war auch nicht zu kalt auf dem Sand und ich habe gut geschlafen. Heute habe ich kein klares Ziel vor Augen. Ich weiß nur: in zwei Tagen sollte ich dann mal auf Sylt ankommen.
Drum lasse ich meine Sachen noch ein bisschen trocknen, packe langsam zusammen, bestelle mir einen Kaffee im schon geöffneten Bistro und unterhalte mich mit dem Mann, der mir am Tisch gegenüber sitzt. Er ist mit seiner Familie mit dem 9-Euro-Ticket angereist ist und findet, dass das Anspruchsdenken der Leute zu groß geworden sei. Das 9-Euro-Ticket sei ein Stück Freiheit, das es der ärmeren Bevölkerung zum ersten Mal ermögliche, diese Freiheit auch zu erleben. Nebenbei: Lindner sei ein Idiot.
Ich vermute, weil der das 9-Euro-Ticket wegen schwieriger Finanzierung nicht weiterlaufen lassen will. So rolle ich zumindest auch dank Lindner erst um 1030 los.
Unterwegs passiert nicht viel, aber kein echtes Ziel und es auch nicht so eilig zu haben, macht entspannt. Zu entspannt? Ich unterhalte mich mit einigen anderen Reisenden. Unter anderem dem älteren Ehepaar auf den E-Bikes, das diesen Sommer Inselhopping in Nordfriesland gemacht hat. „Welche Insel war am schönsten?“, frage ich. „Amrum“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. Sylt sei eine reine Geldinsel geworden, Föhr wie eine Hallig, Amrum habe die schönsten Strände.
Ich fahre ein Stück an den Deichen entlang. Es ist irgendwie superheiß, am Himmel steht nachmittags keine Wolke mehr, dazu weht ein kühler, aber auch sehr frischer Wind, der mich irgendwie austrocknet. Ich saufe wie ein Loch. Fülle meine Trinkflasche insgesamt dreimal wieder auf und kaufe mir zusätzlich noch eine Flasche Gerolsteiner Medium im Supermarkt (das wird mein Lieblings-Mineralwasser).
Und so bin ich froh, als ich dann endlich meinen geplanten Zeltplatz nahe Büsum erreiche, und noch froher, dass es sich ein gesprächiger Niederländer da schon bequem gemacht hat. So wirklich lange währt die Freude dann allerdings nicht.
Denn nachdem ich Robert aus Amsterdam mit meinen paar Niederländisch-Floskeln zu beeindrucken versuche, springt er voll drauf an. Er verlangt von mir, jetzt nur noch Niederländisch zu sprechen, lässt es sich dabei aber auch nicht nehmen, jeden kleinsten meiner Fehler direkt zu korrigieren. Und das wird mir schon bald unangenehm. Ich saß 7 Stunden auf dem Rad, bin todmüde und eigentlich habe ich gar keine Lust, jetzt noch eine Niederländisch-Lektion der alten Schule zu bekommen.
Zum Glück habe ich noch genug zu tun, um danach zu verschwinden: E-Bike-Akku aufladen, duschen, Wäsche waschen und mir schließlich auch das Meer anschauen, zumindest das, was davon gerade da ist:
Als ich zurück komme und mir einen Platz zum Bloggen weit weg von Robert suche, kommt auf einmal ein kleines Mädchen angelaufen. Sie versucht, die Tür der Gaststätte zu öffnen, sagt etwas von Bonbon und kommt dann strahlend zu mir, um mit mir zu reden und sich in den Arm nehmen zu lassen.
Das einzige Problem dabei: Sie spricht nur Französisch und denkt trotzdem, dass jeder sie verstehen kann. Mein Schulfranzösisch ist mittlerweile aber so weit vergessen, dass ich sie nicht einmal fragen kann, wie sie heißt. Ich bekomme es gerade noch zusammen zu sagen, dass ich kein Französisch spreche (danke, Namika 🙄) und sie leider nicht verstehen kann.
Sie versteht nicht, was Französisch ist und dass ich sie nicht verstehen kann. Aber das macht eigentlich gar nichts, denn sie weicht mir trotzdem nicht von der Seite. Weil ich nicht weiß, was ich sonst noch machen soll, mache ich ein Foto von ihr, für das sie bereitwillig posiert – und was ich hier nicht veröffentlichen werde, weil man Bilder kleiner Kinder nicht einfach so ins Netz stellt. Sorry.
Ihre Mutter kommt schließlich dazu, spricht fließend Deutsch (ist Deutschlehrerin) und wir unterhalten uns auch noch ein wenig. Meine Güte, wie niedlich, also beide. 🙂
Ja. Und gleich gehe ich mal zurück zum Zeltplatz und rede noch ein wenig mit Robert aus Amsterdam. Aufgeschlossen ist er ja eigentlich. Man muss solche Menschen dosieren, denke ich. Es muss dieses Abgrenzen sein, von dem Johannes neulich in einem Kommentar sprach. Interessanterweise fand ich den anderen Mitzelter, der fast gar nichts gesagt hat, am Ende interessanter. Vielleicht hat er auch deswegen nichts gesagt, weil er mit Robert schon durch war. Aber mehr reden = mehr sympathisch? Hier zeigt sich also noch einmal, dass die Rechnung nicht aufgeht.
Und wie vielen eigentlich ruhigeren Zeitgenöss:innen bin ich wohl schon auf die Nerven gegangen, indem ich einfach nur gesmalltalkt habe (was ich ja früher auch nicht mochte)? Es ist gar nicht so einfach, da das für jeden erträgliche Maß zu finden.
Heute kam ich an Schafen, Kühen, Enten vorbei – und habe ein sonderbares Verhalten an ihnen bemerkt. Die Schafe wirkten unglücklich, standen teilweise in ihrem eigenen Kot. Enten sammelten sich im Schatten, wie auch Kühe längst dahin geflüchtet sind. Einen guten Eindruck haben die alle nicht auf mich gemacht. Klar, die leiden auch unter der Dürre und der Hitze. Aber es wirkt fast, als wäre da etwas Größeres im Gange, als wäre das Nutzvieh müde, dem Menschen noch nützlich zu sein.
Morgen geht es weiter Richtung Norden. Peter und Beate aus Husum (die ich auf einem Campingplatz in Bayern traf, ihr errinert euch) haben mich zu sich eingeladen. Aber ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob mir das nicht sogar zu nah von hier ist. Würde am liebsten noch ein Stück weiter kommen – und hier langsam mal fertig werden… Mir geht es wie dem Nutzvieh – ich mag irgendwie nicht mehr. Die Reise war schön, aber es ist dann auch gut, wenn sie jetzt bald zu Ende ist.
Robert und ich gehen noch ein wenig auf dem Deich spazieren. Er raucht sich einen, wir reden ein wenig über unsere Touren auf Niederländisch und Deutsch. Und er korrigiert mich weiter. Er ist ein echter Charismatiker, der halbe Campingplatz sprach schon mit ihm, er nennt oft meinen Namen, was sympathisch wirkt. Aber es bleibt auch dabei: schon nach ein paar Minuten geht er mir auf die Nerven und ich will wieder weg von ihm. Charismatisch und sympathisch ist nicht dasselbe.
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Notizen
Der Penny-Markt von Glückstadt. Well played!
Nebenbei: eine schöne Stadt!
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Ich hab es jetzt schon von mehreren Campern an mehreren Orten gehört: Auf Campingplätzen geht nachts der Power(bank)klau um. Offenbar auch in Hamburg am Elbstrand:
Lass deine Powerbank also nicht zu sorglos über Nacht an der allgemein zugänglichen Steckdose hängen, sonst sind am nächsten Tag zwei da. Äh, ja, sind da…
Da hat also jemand die genau gleiche, drei Jahre alte Samsung-Powerbank neben meiner aufgeladen. Schon schräg.
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Und hier noch ein paar schöne Schleswig-Holstein-Klischeeimpressionen: 😬
Wir haben noch gar nicht über Juan gesprochen, und das ist schade, denn Juan ist cool. Als Nicky, Juan und ich am Abend vor meiner Abfahrt zusammen sitzen, nachdem wir unser selbst gebrautes Bier in Flaschen gefüllt haben, sprechen wir auch von unseren Perspekiven auf das Leben.
Nach einer Weile sage ich, ich würde mich im Alltag mit zahlreichen Dingen ablenken. Denn wenn ich mal wirklich zum Nachdenken käme, würde ich feststellen, dass mein Leben ganz schön trostlos sei.
Das könnte man aber auch umdrehen, sagte Juan. Einfach sehen, was man schon alles hat und im Leben erreicht hat, wo man lebt, welche Chancen man hat, welche Freunde, welche Familie. Und dann würde man vielleicht feststellen, dass man eigentlich ein tolles Leben hat.
Manchmal nickt Juan auf seinem Stuhl ein, wenn wir uns treffen, ein bisschen was trinken und es später wird. So auch an jenem Abend. Wir scherzen vorher, dass ich noch nie jemand Betrunkenem einen Penis auf die Stirn gemalt hätte. Ich fände sowas eigentlich unangebracht, aber beide finden, dass es sich lohnt, das mal gemacht zu haben. Nicky holt mir einen Kayalstift, ich warte auf eine günstige Gelegenheit, und dann schreibe ich zur Tat.
Als Juan davon wach wird, ist er nicht etwa sauer oder schimpft, sondern lässt mich ein Foto davon aufnehmen und es ihm zuschicken. Er lobt meine Zeichenkünste und die Aktion an sich. Er rennt auch nicht gleich ins Bad, um sich das Gemälde abzuwaschen, sondern hält den Rest des Abends damit durch.
Juan ist toll!
Ich selbst bin leider noch lange nicht so gelassen, auch wenn es besser wird. Und heute ist ein Tag, wo es ohne Gelassenheit auch gar nicht gegangen wäre.
Hier einmal etwas Interaktives für euch: zwei Möglichkeiten zur Auswahl und die Frage, was ihr getan hättet. Anschließend die Auflösung, für was ich mich entschieden habe.
Gegen 0800 wache ich auf, fange schon im Zelt an, zusammenzupacken. Die frühe Morgensonne knalllt drauf, und es ist bereits so heiß, dass ich verschwitzt aus dem Zelt komme.
a) Du würdest dich ärgern, so früh schon verschwitzt zu sein und nicht vorher schonmal die Zeltwände aufgemacht zu haben, damit Luft reinkommen kann. b) Du wolltest eh in den Waschraum und machst dich da noch mal frisch.
Was ich getan habe: b) Ich musste noch in den Waschraum, um Sonnencreme aufzutragen. Dabei spritze ich mir noch etwas Wasser ins Gesicht. Alles halb so wild.
Danach packe ich zusammen, zahle an der Rezeption, bekomme noch einen schwarzen Kaffee ausgehändigt und mag nicht so recht losfahren. Mir fehlt der Antrieb.
Die Gegend ist toll, aber der Weg ist schlecht. Sand, Kopfsteinpflaster, leichte Steigungen – manchmal auch alles gleichzeitig. Ich komme kaum voran.
a) Was für ein Ärger. Ich drehe durch! b) Ach, alles nicht so schlimm. Brauche ich halt was länger und kann mehr Gegend sehen.
Was ich getan habe: a). Ich habe mich tatsächlich aufgeregt. Ich bin schlecht drauf und mir geht beinahe jeder auf den Sack, den ich sehe. Ich wollte heute eigentlich über Liebe bloggen, aber das Thema ist zu traurig. Deswegen doch erstmal über Perspektive und Gelassenheit.
Irgendwann erreiche ich Hamburg-Harburg. Es ist heiß, ich muss an vielen Ampeln ohne Schatten warten, ich werde überholt, ich fahre Ewigkeiten durch die Stadt. Als ich beim Elbtunnel im Aufzug kurz warten muss, tropft mir die Soße von der Stirn.
a) Es nervt, diese Hitze! Und wie ich dabei aussehe. Ich schäme mich zu Tode. b) Ach, was soll’s. Ich sehe aus wie ein Radreisender, da ist das gesellschaftlich akzeptiert.
Ich mache mir tatsächlich wenig draus und fahre einfach weiter.
Als ich dann endlich nach 70 km Fahrt den geplanten Zeltplatz in Hamburg-Zentrum erreiche, ist der voll. Der Besitzer weist mich freundlich zum nächsten.
a) Ich könnte alles zusammentreten. Der Arsch! b) Ach, was soll der Ärger. Damit war zu rechnen.
War es in der Tat. Der Platz hat keine Zeltwiese, sondern nur Parzellen und die sind alle weg. Zudem ist der Betreiber nett. Nur kurz bekomme ich aber ein wenig Angst, keine Unterkunft mehr zu bekommen, zumal es auf Booking.com kaum noch ein Zimmer unter 80 Euro als Alternative gäbe.
Ich rufe den nöchsten Zeltplatz an – es geht niemand ans Telefon. Ich rufe einen anderen am Elbstrand an. Nach 3 Minuten in der Warteschlange: „Klar, ich nehme Sie auf. Aber wir haben einen Strand, keine Wiese.“
Und diese Information hätte ich mir besser genau durch den Kopf gehen lassen, denn sie wird spöter noch wichtig werden.
Es sind noch einmal 16 (!) km quer durch Hamburg zu fahren. Und wie jede Großstadt auf der Tour überfordert sie mich im Moment der Durchreise. Viele Menschen, heißer Asphalt, lange Rotphasen ohne Schatten. Immerhin sehe ich durch den Umweg heute mehr von der Stadt als jemals zuvor. Auf dem Weg brauen sich Wolken zusammen. Es könnte bald regnen.
Ich erreiche gegen 1620 Uhr endlich die Rezeption, und es donnert schon im Hintergrund. Meine Pläne, heute mal ein wenig gechillt durch Hamburg zu flanieren, sind längst zerschellt. Und zu allem Überfluss haben der Vater und sein adoleszierender Sohn vor mir am Schalter alle Zeit der Welt. Sie sind mit einem Camper da, flachsen, scherzen und flachsimpeln mit dem Betreiber.
a) Diese Wichser! Keine Empathie! b) Ach, darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an.
Ich kann mir nicht helfen: ich bin genervt. Als ich dann endlich dran bin, gibt mir der Mitarbeiter noch als Rat: besser schnell Zelt aufbauen, da kommt jetzt was!
Dem würde ich ja gerne Folge leisten, aber ich bekomme mein schwer beladenes Rad kaum durch den Sand geschoben. Meine smarte Armbanduhr verabschiedet sich mit einem Piepen (Akku leer). Und als ich mir schnell einen Platz ausgesucht habe, geht es auch sofort los. Es kommen Sturzbäche vom Himmel. Und alles über mir ist ein kleiner Baum, der kaum Regen abhält.
Jetzt schnell handeln! Das Zelt aus den Satteltaschen geholt, aufgemacht, auf den Schlamm gestellt, der sich längst gebildet hat. Das Aluminiumgestänge hat diesen Schlamm längst abbekommen. Ich muss eigentlich höllisch aufpassen, dass da kein Sand zwischen die einzelnen Glieder kommt, sonst ist das Gestänge hin. Aber ich muss so schnell machen wie ich kann, damit das Innenzelt nicht nass wird.
Und der Plan geht vollkommen schief. Am Ende ist das Innenzelt durchnässt, es bilden sich Pfützen auf dem Boden. Das Gestänge und die Enden sind verdreckt und versandet. Ich bin nass, mein Handy ist nass, mein Handtuch ist nass – alles ist nass. Meine Schuhe: total verschlammt.
a) Cool bleiben, Nerven bewahren, produktiv handeln! b) FUUUUUUÜUUUUCK!
Es wird b). Ich schimpfe, fluche, weine beinahe vor mich hin. Aber es nützt nichts. Es bleibt mir nur die Flucht nach vorne. Ich schnappe schnell meine Waschtasche, mein Handy, mein nasses Handtuch und eine noch trockene Unterhose und springe in den Waschraum und da unter die Dusche. Nass bin ich ja schon.
Als ich wieder ins Zelt komme, tröpfelt es zum Glück nur noch ein wenig. Ich nehme einen Lappen, wische die größten Pfützen weg, passe auf, dass kein weiterer Sand ins Zelt kommt, ziehe mich schnell an und nutze die Regenpause, um alles dicht zu machen und zum Bus zu laufen. Und immerhin das gelingt. Eine Stunde später bin ich in Hamburg-City und gehe mit Mario Fisch essen.
Es wird ein tolles Wiedersehen. Und auch der Fisch ist klasse. 😉
Nach dem Treffen nehme ich die S-Bahn zurück in Richtung Campingplatz. Aber weil kein Bus mehr fährt, soll ich zu Fuß gehen. 30 Minuten!
a) Bodenlose Frechheit! Eine 2-Millionen-Stadt und dann so ein Nahverkehr! b) Endlich mal wieder ein bisschen Spazierengehen.
Es wird b). Denn so paradox es klingt, da ich täglich draußen bin und viel Zeit zum Nachdenken habe: mir fehlt das Spazierengehen und das Gedankensortieren dabei. Es ist eine himmlich angenehm-warme Luft, und es wird ein wunderschöner Abendspaziergang.
Morgen geht es Richtung Husum. Ob schon ganz dahin (140km) muss ich mir noch überlegen. 😉 Ich komme in den letzten Tagen kaum noch vorwärts. So schön die Tour ist: ich bin dann auch ganz froh, wenn ich bald am Ziel bin und dann mal ein paar Tage kein Rad fahren muss.
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Notizen
Kurzgeschichten aus der Schule, hier wiederholt:
„Nachts schlafen die Ratten doch“ (Wolfgang Borchert) -> schon nice, sehr subtil und mehrdeutig.
„Jenö war mein Freund“ (Wolfdietrich Schnurre): deutlich direkter – und herzergreifend, glänzende, kurze Erzählung.
Lese gleich zum Einschlafen mal „Die Nacht im Hotel“ von Siegfried Lenz.
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Die Ladestation auf dem Campingplatz und 1 ziemlich nices Ladekabel!
Britta und Markus kredenzen ein tolles Frühstück, und ich lasse mir extra viel Zeit damit, so, als würde sich dann der Fahrradschlauch von selbst auswechseln.
Das passiert natürlich nicht, dafür schaffen wir es mit vereinten Kräften. Die ganze Familie, Britta, Markus und Mika, hilft, und der Nachbar ist so nett, uns seinen Fahrradhalter auszuleihen. Das E-Bike befestigen wir daran. Einer muss aber trotzdem noch festhalten, denn das E-Bike ist zu schwer, ein anderer den Reifen, den wir dazu auf einen Stuhl ablegen, bei dem wieder einer gegenhalten muss.
Der Vierte, ich, friemelt schließlich den alten Schlauch heraus und den neuen wieder rein. Dann wieder mit vereinten Kräften das Rad dranmoniertieren, nochmal neu justieren, weil es sich in der Bremse verfangen hat, anschrauben, gucken, ob es sich gerade dreht, festschrauben, aufpumpen, ablassen. Puh! Was ein Act!
Alleine hätte ich das ganz sicher nicht geschafft. Als Kind sollte ich mein Fahrrad immer selbst reparieren, und sehr oft ging das auch. Fahrräder heute sind hochkomplexe Maschinen geworden, bei denen du haargenau wissen musst, was du da tust, sonst machst du es alles nur noch schlimmer.
Als ich das Ventil herausoperiere, kommt es mir übrigens fast schon entgegen. Scheint, als wäre der Riss gleich da unten gewesen, und wir hatten den Schlauch gestern Morgen bei unserer Aufpumpaktion unsanft geköpft:
Als Belohnung gehen wir hinterher auf meine Kosten noch ein Eis essen. Dann muss ich auch los. Wieder ein Ort, an dem ich gerne länger geblieben wäre.
Die Fahrt wird dann wenig ereignisreich. Es geht kilometerweit am Truppenübungsplatz Munster/Bergen vorbei:
Und an der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Aber mir ist einfach irgendwie nicht danach, da reinzugehen. Hab heute einfach mal keine Lust auf Betroffenheit:
Die Landschaft ist aber schön. Sie erinnert mich an meine Heimat. Bewaldet, viel Grün, kaum Steigungen, aber durchaus windig. Ich bin heute nicht so richtig munter, mache einige Pausen und benutze viel den Motor.
Als ich an einer Tankstelle mit eingebautem Café vorbeikomme, gönne ich mir noch einen Kaffee und setze mich draußen hin, wo gerade noch eine andere Dame verweilt, die mich anspricht.
Sie käme aus der Nordheide, aber wäre durch Zufälle hier gelandet (auf halbem Wege zwischen Hannover und der Lüneburger Heide), 48 Jahre alt, seit einigen Jahren dort im Altersheim – und es wäre dort furchtbar.
Ich bin überrascht: „Das geht? Sie sind doch kaum älter als ich!“ Genauer geht sie nicht auf die Gründe ein, aber sie sagt, dass ein Altersheimaufenthalt ab 40 möglich sei. Sie kenne dort aber niemanden, die Pflege sei schlecht, die Bewohner hätten zwar immerhin Internet, aber würden alles alleine machen, sich gegenseitig misstrauen und sich regelmäßig anschreien.
Ich frage sie, warum sie da bleibe, wenn es ihr nicht gefalle und es ihr in der Nordheide kurz vor Hamburg – wie ich heraushöre – besser gefallen habe. Das wäre nicht so einfach sagt sie. Das habe mit Geld, Verträgen und der Frührente zu tun. Aber hier wären die Menschen schon sehr verschlossen.
Es entwickelt sich noch ein sehr nettes Gespräch. Sie fragt, wohin ich reise, wie das Wetter in den nächsten Tagen noch werde (gar nicht mal so gut!) und dass sie sich Sorgen um die Zukunft der Gesellschaft mache.
Das haben mir schon viele Menschen auf meiner Reise gesagt. Man sorgt sich um die Zukunft, und man spürt ein tiefes Misstrauen gegenüber den Anderen. Die meisten, mit denen ich sprach, waren aber eigentlich sehr nett und aufgeschlossen. Es muss die schweigende Masse sein, die zu Hause sitzt, auf Facebook andere Menschen anhasst, die Deutschland-Flagge hisst und AfD wählt.
Solche Gespräche mit Wildfremden sind auf meiner Reise mittlerweile das Salz in der Suppe. Es soll ja Leute geben, die nur wegen so etwas Journalisten werden. Ich habe lange Zeit genau dieses Reden-mit-Menschen immer vermeiden wollen. Aber ich spüre, dass das langsam ein Ende hat.
Meine Tour heute endet nach 95 km in Bispingen am Fuße der Lüneburger Heide am Zeltplatz. Mein Nebenzelter arbeitet zufällig als Vertriebler für E-Bike-Motor-Teile und plaudert ein wenig aus dem Nähkästchen. Er schlägt mir einen Ölwechsel der Nabe vor. Der wäre notwendig und könnte bei meiner vermurksten Schaltung noch was retten. Ja, da wäre tatsächlich Öl drin.
Ölwechsel der Nabe… Was kommt als Nächstes? Bordentertainment-Konsole im Tacho? Wie oben schon erwähnt: die Zeiten, in denen man alles mit ein paar Handgriffen selbst reparieren konnte, sind dann wohl auch vorbei.
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Was seid ihr?
Habe irgendwie das Bedürfnis., nochmal alle deutschen Kurzgeschichten zu lesen, die ich damals im Deutschunterricht nicht verstanden habe. Also alle. Passt ja irgendwie auch zu einer Deutschlandreise. Lese gleich im Zelt mal „Nachts schlafen die Ratten doch“ von Wolfgang Borchert.
Morgen dann Hamburg via die Lüneburger Heide, die gerade blühen soll. Wird bestimmt schön.
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Notizen
Note to self: Merino-T-Shirt nicht mehr von Hand im Waschbecken waschen. Das stinkt jetzt irgendwie wie Hulle und das hat es vorher nicht.
Übrigens stimmt es nicht, dass nasse T-Shirts am Körper in einer Stunde von selbst trocknen. Das dauert viel länger. Abends zumindest. Ich probiere es gerade aus (und stinke 20 Meter gegen den Wind).
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Mika (9) hat ein Fußballspiel mit Lego authentisch nachgestellt. Inklusive selbst geklebten Werbebanden, selbst gemachter Spielfeldmarkierung, Pressefotografen, Spielertunnel, Fallrückzieher und und und. Sehr, sehr geil!
Gottfried fragt mich noch einmal, was ich eigentlich genau beruflich mache und wie das eigentlich alles genau funktioniere und nennt mich danach einen „Aussteiger“. Sowas hätte er sich nicht getraut, er sei ja nur Beamter gewesen. „Ja warte mal“, sage ich: „DU hast doch ein paar Jahre in einer Kommune gewohnt – wie passt das eigentlich zusammen?“ – „Das hat wunderbar gepasst.“
Die Kommune in dem Dorf in der Nähe bestand von 1978 bis 1987, war mehr Legende als tatsächlicher Sündenpfuhl – und am Ende ziemlich harmlos. Während meine Großeltern Stoßgebete gen Himmel schickten und die Leute im Dorf sich in ihrer Fantasie wilde Orgien ausmalten, lebten am Ende nur vier Paare länger zusammen. Jedes Paar für sich in einem Flügel des gemeinsam genutzten Bio-Bauernhofs, und viel mehr eigentlich auch nicht. Auf die Kinder passte man gegenseitig auf, den Hof bewirtschaftete man gemeinsam. Tagsüber gingen einige aus der Kommune ganz normalen Jobs nach. Gottfried und noch ein anderer waren Gymnasiallehrer. Ein paar wilde Partys, eine offene Sexualmoral? Sicher, aber offenbar auch nicht mehr, als zur gleichen Zeit drüben in Chemnitz. Keine freie Liebe, keine ausgehängten Klotüren, nur ein Miteinander in einer verlängerten Familie und dazu ehrlich verdientes Geld. Eigentlich ein erstaunlich bodenständiges Konzept, seiner Zeit ein wenig voraus und heute wieder modern.
Bevor ich heute los komme, möchte ich noch einmal meinen Hinterreifen aufpumpen. Da war ohnehin schon was wenig Luft drin, und die vergeblichen Versuche, mit einer von Gottfrieds Pumpen da gestern Luft reinzukriegen, haben das alles noch verschlimmbessert (französische Ventile… 🙄). Aber was tun in einem kleinen Ort, in dem es kein Fahrradgeschäft gibt?
Gottfried kennt einen Kramladen ein paar Straßen weiter. Der hätte bestimmt was da. Gottls Idee ist, langsam mit dem Auto voraus zu fahren, während ich ihm mit dem Fahrrad folgen solle. Warum er eigentlich nicht selbst mit dem Fahrrad gefahren wäre, frage ich ihn hinterher. „Keine Lust gehabt.“ 🤷🏻♂️
Die Szene hat etwas Absurdes. Im dichten Samstagsvormittagsverkehr fährt Gottl mit etwa 20 km/h vorneweg – es geht leicht bergauf, ich komme mit dem Rad kaum schneller hinterher. Aus dem Fahrerfenster gibt er mir Handzeichen für die richtige Richtung. Andere Autos überholen uns oder warten geduldig.
Am Kramladen angekommen, hat dieser natürlich Betriebsurlaub. Also weiter zur letzten Bastion: der örtlichen Tankstelle. Wir haben sogar an den richtigen Adapter gedacht. Aber der Luftdruckregler pumpt keine Luft in den Reifen.
Im gleichen Moment kommt ein älterer Tankstellenmitarbeiter vorbei und bietet uns spontan seine Hilfe an. Er organisiert eine Verlängerung, aber auch die kann nichts ausrichten. Doch aufgeben ist nicht. Der Mann bittet uns, ihm in die Werkstatt zu folgen, wo er einen alten Kompressor stehen hat.
Mit Adapter, Verlängerung und Kompressor hantieren zwei von uns schließlich an meinem Hinterreifen herum, während der Dritte das Rad festhält, weil es ja keinen Ständer mehr hat. Aber das Manometer bleibt auf null. Wir probieren es noch einmal: wieder null. Erst dann fühlt mal einer von uns den Druck am Reifen selbst: er ist voll aufgepumpt!
Oha, ob das wohl zu viel war? Wie viel Luft ist da jetzt drin? Es sieht so ganz in Ordnung aus. Wir lassen es also dabei, verabschieden uns dankend und rollen von dannen.
Nachdem ich noch ein letztes Mal kurz in den Pool gehüpft bin und wir noch einen Kaffee zusammen getrunken haben, verabschiede ich mich sehr herzlich und fahre los. Was für ein toller Onkel!
Es ist schon 1340 Uhr. Und die 24 Stunden ohne in eine Pedale zu treten, haben mir gut getan. Es geht anfangs noch ein paar steile Hügel hinauf, aber es macht mir nichts aus. Und danach geht es bis Braunschweig und danach die 50 km bis Hannover nur noch bergab.
Gegen 1600 Uhr erreiche ich Peine und gönne mir in einem Lokal ein Stück Kuchen und einen Kaffee. Ich schreibe Markus und Britta, dass ich schon im Endspurt wäre, und plötzlich beginnt es sogar leicht zu regnen. Und dann passiert etwas.
Als ich zu meinem Fahrrad zurückkehre und losfahren will, merke ich: da stimmt was nicht. Der Reifen hinten hat kaum noch Luft. Och nein, das ist jetzt irgendwie schlecht.
Schon morgens hatten sich die beiden Nachbarn meines Onkels im Spaß über mich amüsiert – nicht ganz zu Unrecht, wie ich gestehen muss. Fährt da einer einmal quer durch Deutschland und hat keine Luftpumpe dabei.
Dabei habe ich sogar extra mal eine handliche Reiseluftpumpe mit Akku gekauft, die auf Knopfdruck Luft aufpumpt. Ich habe sie zu Hause gelassen, weil ich in meiner unendlichen Weisheit dachte: ein Fahrradgeschäft mit Luftpumpe draußen findest du doch an jeder Straßenecke.
Ja, genau…
Ich frage den Besitzer des Cafés, ob er ein solches Fahrradgeschäft in der Nähe kenne. Ja, sagt der, da sei gleich eins um die Ecke. Aber es sei Samstagnachmittag und ob das jetzt noch geöffnet habe… Hat es natürlich nicht. Und eine Luftpumpe hat es draußen auch nicht stehen, als ich dort ankomme. Was nun, was jetzt tun? Ich sehe akut keine bessere Lösung als: andere Menschen um Hilfe bitten.
Und so versuche ich es zunächst bei einem älteren Ehepaar, das gerade seine genau gleich aussehenden E-Mountainbikes aufschließt. Nein, täte ihnen Leid, eine Luftpumpe hätten sie nicht dabei. Aber sie sehen unzufrieden aus darüber, dass sie mir nicht helfen konnten. Ich bedanke mich und spreche direkt die nächsten an. Ein Typ etwa Mitte 30 mit seiner Freundin, beide auf einem E-Bike. Ja, sagt der, er hätte eine kleine Notfallpumpe dabei. Müsse man zwar 200-mal pumpen. Aber immerhin. Ich nehme sein großzügiges Angebot an und sattele meine Taschen ab. In der Not frisst der Teufel Fliegen. In der Zwischenzeit kommt auch das ältere Ehepaar wieder dazu. Sie haben ein Repair-Notfallspray in der Satteltasche gefunden.
Am Ende probieren wir beides. Das Spray spuckt einen weißen Schaum aus, der Typ mit der Pumpe ist all in und pumpt selbst mindestens 150-mal, bis der Reifen sich langsam hebt und ich ihn ablöse. Seine Freundin steht abwartend abseits. Sie hatten etwas Besseres vor, das sehe ich ihr an. Dass sie mir trotzdem helfen: unbeschreiblich!
„Ich würde jetzt direkt zum Bahnhof fahren“, sagt der hilfsbereite Mann mit der Pumpe. „Das hält bestimmt nicht lange, und beim nächsten Mal stehst du irgendwo in der Pampa“. Ich weiß, dass er natürlich Recht hat. Aber ich will so schnell noch nicht aufgeben. Ich bedanke mich bei allen von Herzen und gebe dem älteren Ehepaar 10 Euro als Ersatz für Ihr Notfallspray. Dann lade ich mein Zeug wieder auf und suche auf Google Maps nach Geschäften.
Ich weiß, dass Kaufland eine Fahrradabteilung hat, und siehe da: in 3 km Entfernung gibt es eine Filiale. Ob der Reifen wohl so lange noch hält? Auf dem Weg dahin komme ich an einem weiteren Fahrradgeschäft vorbei, das natürlich auch geschlossen hat.
Bei Kaufland angekommen, sehe ich, dass der Reifen beinahe schon wieder platt ist. Aber die Luft hat gerade noch gereicht. Im Laden shoppe ich eine Doppelhub-Luftpumpe und ein weiteres Notfallspray. Draußen sprühe ich den Rest in den Reifen und pumpe mit mindestens 200 Stößen den Reifen noch einmal auf – und bin guter Dinge: das könnte mit etwas Glück die 40km bis Hannover halten. Ich kündige mich bei Markus und Britta an und fahre los.
Genau 2 km später muss ich einsehen: es geht nicht. Der Reifen ist schon wieder platt. Und das Ventil nimmt jetzt gar keine Luft mehr an. Ob wir das am Morgen in der Tanke mit unseren zahlreichen Versuchen geschrottet haben? 🤔🤔🤔
Jetzt bleibt mir nur noch als Option, den Schlauch zu wechseln. Einen solchen habe ich tatsächlich eingepackt, Notfall-Schlüsselset und Mantelheber auch. Also eigentlich alles dabei. Aber verflucht: ich bekomme mit dem kurzen Hebel des Notfallwerkzeugs die Reifenmutter nicht gelöst. Und ich erinnere mich: die hatten die Jungs in dem Fahrradladen in Karlsruhe extra fest angezogen, damit sich der Bremsschlitten nicht mehr mitbewegt. Na klasse.
Ich gebe auf und beschließe, dann doch den Zug zu nehmen – wohl wissend, dass ab jetzt Murphys Law greift. Alles was schief gehen kann, geht jetzt auch schief: Der Bahnhof ist 2,5 km entfernt. Ich muss schieben und so verpasse ich die erste mögliche Bahn. Die zweite würde eine halbe Stunde später fahren, aber fällt aus. Nächste Fahrt erst eine Stunde nach der ersten. Und so schiebe ich zum Bahnhof, komme wie zum Hohn noch einmal an einem längst geschlossenen Radgeschäft vorbei und dann 50 Minuten vor dem nächsten Zug am Bahnhof von Peine an. Es fallen mehr Züge aus als noch kommen, also ist klar: den nächsten muss ich erwischen:
Aber was soll ich mich da jetzt aufregen, denke ich. Ändern kann man ja eh nichts. Ich beschließe, die Wartezeit schon einmal mit einem Bier zu verkürzen und mit Markus schon einmal fernzuzuprosten. Und so schiebe ich mein Rad vor eine Bahnhofskaschemme der Art, in die ich normal niemals gehen würde, und gehe rein:
Es gibt Spielautomaten, zwielichtige Gestalten, eine tätowierte Mutter Oberin, Volbeat aus der Lautsprecheranlage – und regionales Bier für gerade mal 1,50 Euro die Flasche. Na also, gar nicht schlimm da! Zumal es eine Terrasse gibt, auf die ich mich setzen und die ähnliche Zusammensetzung im Laden gegenüber studieren kann:
Wenig später auf dem Bahnsteig geselle ich mich zu dem einzigen Ehepaar, das außer mir noch mit Fahrrädern unterwegs ist, und wir smalltalken kurz, etwa darüber, wo wohl das Fahrradabteil sein wird (note to my future self: meist am Anfang und Ende eines RE). Klar ist auch: ich muss in den Zug jetzt irgendwie rein. Denn der nächste kommt erst in zwei Stunden – vielleicht.
Und es kommt, wie es kommen muss: die Bahn rollt ein, wir stehen vorne, und vor dem Fahrradabteil ist die Tür defekt. Wir wollen es über die Nebentür versuchen, doch die Schaffnerin hält uns auf: nein, leider nicht erlaubt. „Aber wir könnten doch da eben durch…“ Nein, leider nicht erlaubt. Ich beginne zu diskutieren. Dass dies der einzige Zug in drei Stunden sei, der nach Hannover fährt und dass die Deutsche Bahn ein Sau… Ja, täte ihr Leid, aber nichts zu machen. Ich könne es nur am anderen Ende des Zuges noch versuchen.
Das Ehepaar ist längst auf dem Weg dorthin, und ich sprinte hinterher – so gut das mit einem schwer beladenen E-Bike mit einem Platten eben geht. Das Paar hilft mir. Der Mann fährt vor und öffnet, die Frau stellt sich in die Tür, damit ich es noch hinein schaffe. Die Menschen in diesem komischen Land können unfassbar hilfsbereit sein, wenn man sie nur mal lässt – und wenn man dabei nicht wie ein Penner aussieht.
Und wir haben Glück. Das hintere Fahrradabteil ist noch fast leer. Wir finden alle einen Platz für unsere Räder.
Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Denn ich komme mit dem etwa gleichaltrigen Typen ins Gespräch, der mir gegenüber sitzt und dem Ehepaar und mir ein Fisherman’s Friend Lemon anbietet. Sie lehnen ab – ich nehme an. Die Dinger mag ich zufällig. 😉
Und der Typ ist schräg.. Auch er hat ein Fahrrad hinten stehen. Auf meinen Hinweis, dass das gerade umgefallen sei, winkt er ab: „Ist ja nur ein Gegenstand, weißt du, und da wird sich schon einer drum kümmern.“ Und so ist es dann auch. Ein weiterer Radfahrer, der als letzter kam und daneben sitzt, nimmt sich das Fixierseil und befestigt das Rad meines Gesprächspartners an der Zugwand. Problem tatsächlich gelöst.
Aber weiter geht’s. Er würde nur nach Hannover fahren, weil er da abends gut nackt baden und sich einen durchziehen könne. Aha. Nein, kein Gras, nur Haschisch, eine bestimmte Sorte, die sie in Holland für 8 Euro das Gramm verkauften, den Bauern in Marokko aber nur 8 Cent dafür zahlen würden. Deswegen hätten die auch alle einen solchen Hass auf uns. Und auf die Schweiz sollte man ein paar Wasserstoffbomben werfen. Hätten die verdient.
Das alles klingt mir halb im Scherz gesagt, und irgendwie mag ich den Typen. Und so tue ich, was ich mir ein paar Tage zuvor als Grundsatz notiert habe, und lasse ihn einfach weiter reden ohne zu werten. Dadurch erfahre ich noch, wie er es sich als Fünfjähriger – angeblich – einmal eine Stunde lang in Schloss Neuschwanstein im Königlichen Schlafgemach auf der Matratze bequem gemacht hatte. Seine Eltern hätte er erst angeblich später auf dem Parkplatz wiedergetroffen, gemerkt hätte es keiner. Und wie er seine Eltern auf der gleichen Reise in Bern einmal verloren habe. Sonderbare Eltern, denke ich. Rührt daher sein Hass auf die Schweiz?
Das Ehepaar neben uns denkt sich seinen Teil und sagt nichts. Der Typ und ich amüsieren uns die 25 Minuten Fahrt nach Hannover köstlich.
Markus holt mich schließlich am Bahnhof ab, und wir schieben zusammen Richtung List. Markus, Britta und Mika haben mir noch reichlich zu essen übrig gelassen, und es wird noch ein gemütlicher Abend auf dem Balkon.
Wir reden über die Schulzeit. Markus und ich waren in der Oberstufe dicke Freunde und sind es eigentlich noch immer, aber ansonsten war ich damals sehr froh, das Abi geschafft zu haben und aus dem Ganzen herauszukommen. A propos: In ein paar Wochen wäre 25-jähriges Jahrgangsnachtreffen, sagt er. Und ich weiß das sogar. Würde ich kommen? Nein, sage ich, zu viele unliebsame Erinnerungen. Er nickt. Das könne er gut verstehen.
Morgen gilt es, irgendwie den Schlauch auszuwechseln und ein Stück weiter in Richtung Hamburg zu fahren. Sollte doch eigentlich möglich sein, hoffentlich. Passenderweise haben auch sie ein Fahrradgeschäft direkt gegenüber, aber morgen ist ja Sonntag…
Was für ein Tag! Eigentlich ist es mir immer am liebsten, wenn alles reibungslos funktioniert. Aber dann hätte ich nicht einmal die Hälfte zu erzählen…
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Notizen
In Braunschweig ist CSD:
Und paar hübsche Ecken gibt es da auch:
Und dann sogar auch in Hannover:
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Seriously, Deutsche Bahn? Klar, jeder hat gerade das 9-Euro-Ticket, aber der reguläre Preis von Peine nach Hannover wären wirklich über 100 Euro?! Für 25 Minuten Fahrt im RE?!
Die Nacht im Wald ist erstaunlich ereignisarm, aber kurz. Um zwei Uhr wache ich einmal auf. Es ist kalt, ich murmele mich stärker ein. Einmal kommt irgendein Tier nah an mein Zelt. Ich verscheuche es, indem ich übertrieben laut gegen die Zeltwände schlage. Ab kurz nach 5 bin ich im Halbschlaf. Ko.mmt da einer um die Ecke? Nein, es sind doch nur irgendwelche Vögel oder Feldmäuse, die Geräusche machen.
Um 0600 stehe ich auf. Ich habe die Nacht wildcampen schadlos überstanden, und viel mehr gibt es zu dem kleinen Abenteuer kaum zu sagen. Bin ich jetzt als ganzer Mann aufgewacht? Wird sich wohl erst später zeigen. Ich packe zusammen, rolle um 0715 los. Etwa 3 km von der Zeltstelle kommt mir auf einem Feldweg eine Frau auf einem Fahrrad entgegen. Sie ist der erste Mensch, den ich seit fast 12 Stunden sehe.
Bevor ich den Osten der Republik verlasse, sehe ich in Oschersleben die Werbung für eine Ostalgie-Kantine in 900m Entfernung und fahre spontan dahin. Die Aufmachung des Freilichtmuseums ist schon draußen so authentisch, dass ich zwei Typen, die vor dem nachgeahmten Grenzposten stehen, frage, ob sie mich reinlassen. Tun sie natürlich, denn sie arbeiten gar nicht dort.
Es dauert ein wenig, bis ich die eigentliche Kantine gefunden habe. Ich frage die Bedienung hinter der Theke, was man hier so isst oder eher: früher gegessen hat, und bekomme ein Brot mit Spiegelei, ein Kännchen Kaffee und zwei Brötchenhälften mit Camembert und einer aufgeschnittenen Bulette. Sieht wirklich toll aus vor der Kulisse mit dem vollen Aschenbecher, den Figuren aus dem Erzgebirge und dem Konterfei von Ernst Thälmann an der Wand…
Die anderen Gäste sehen zum Teil so aus, als gehörten sie zum Inventar und würden sich die DDR zurückwünschen. Und ganz ehrlich, auch wenn es mit den Ohren eines „Wessis“ unlogisch klingt: nach allem, was ich im Osten gesehen, was ich in der kurzen Zeit erlebt habe, werde ich sie nicht dafür verurteilen.
Meine Beine sind inzwischen so schlapp, dass ich fast den ganzen Vormittag über mit Motor fahre. Mir tun die Knie weh, die Vorderbremse schleift. Ich kann einfach nicht mehr. Der halbe Tag Pause heute ist mittlerweile auch dringend notwendig.
Gegen 1230 erreiche ich Schöppenstedt, gegen 1330 Uhr habe ich die Lampe an. Gottfried schlägt vor, dass wir direkt Aperol-Spritz gegen die Hitze trinken, und ich habe nichts dagegen. Heute soll Pool-Tag sein.
Nach der Begrüßung und den zwei Aperol-Spritz beschließen wir, erstmal jeder für sich ein Nickerchen einzulegen und uns später am Pool wiederzutreffen. Ich stelle vorher noch schnell eine Maschine an und falle in einen traumlosen Schlaf, aus dem ich erst zwei Stunden später wieder aufwache.
Nach der ersten Poolsession schrauben wir an unseren Fahrrädern herum – ich umwickle die Schutzblech-Halterung vorne neu mit Panzertape und tausche die Bremsklötze vorne aus, die ich schon seit Bayern mit mir herumtransportiere. Die eigentlich leicht defekte Vorderbremse hat tatsächlich noch 500km durchgehalten ohne zu murren.
Gottfried spricht nebenbei einem Schornsteinfeger auf den Anrufbeantworter: „Eine meiner Frauen von früher steht bei Ihnen noch mit im Adressfeld. Könnten Sie die bitte rausnehmen?“ Gottfried ist zum dritten Mal verheiratet.
Abends essen wir Erbsensuppe (Vitamine!) und reden bei einem Glas Ramazzotti über die Familie und wie sich manche Charaktereigenschaften über Generationen hinweg weitervererben.
Es ist schon fast Mitternacht und beinahe Schlafenszeit, als wir beschließen: wir hüpfen noch einmal in den Pool! Nightswimming quasi, denn wir haben beide nichts dabei an.
Nach 3 Minuten im immerhin noch 28 Grad warmen Wasser stellen wir fest: Schön, dass mal gemacht zu haben, aber reicht dann auch schon. Ab in die Kiste. Morgen geht es weiter nach Hannover. Noch einmal eine etwas kürzere Etappe. Und danach hoffentlich mit neuer Vollkraft zum Endspurt Richtung Sylt.
Gottl hatte sich drauf eingestellt, dass ich 3-4 Tage bleibe. Jetzt wird es nur einer. Das ist schon ein großer Nachteil an einer solchen Reise: ich habe nur drei Wochen, rausche so durch und komme kaum mal mit den tollen Menschen unterwegs länger in Kontakt…
Was mir vom Osten in Erinnerung bleiben wird:
Die Leute grüßen eher seltener als in Bayern oder Niedersachsen
Gucken sogar eher weg als dich an, wenn sie dich sehen
Teilweise richtig schlechte Wegstrecke, teilweise richtig gute
Mit den Logos regionaler Fußballvereine (meist Drittligisten) verzierte Stromkästen an beinahe jeder Ecke. Fast so, als erfülle der Verein die Funktion der Identitätsbildung.
Steppenartige Landschaft
Teils wunderschöne Gegenden: überrascht haben mich die Saalelandschaft, das Vogtland und Chemnitz
Wann immer ich dann doch direkten Kontakt mit den Locals hatte, dann waren es sehr nette, geradlinige Leute.
Soso, der Herr Aventurer will sich immer nur ins gemachte Nest legen. So läuft das aber nicht!
Ich stehe spät auf und packe dann erstaunlich schnell zusammen. Trotzdem: Vom Moment des Aufwachens bis zum Moment des Losfahrens liegt bei mir immer etwa 1:10h.
Was ich heute auch tue, ich komme nicht so richtig in den Tritt. Ich schleppe mich durch, mache viele Pausen, genieße aber auch die Landschaft entlang der Saale. Sie ist teils herrlich grün, teils komme ich mir vor wie in der Steppe des Mittleren Westens. Es hat seit Wochen kaum geregnet, Autos auf Feldwegen wirbeln Staub auf, die Gegend ist völlig ausgetrocknet. Zwar ungewohnt aber auch irgendwie interessant.
Würde hier ein Strauch durch die Gegend wehen – man wäre auch nicht überrascht.
Und dann beschließe ich, wild zu campen.
Eigentlich wollte ich das schon die ganze Reise über mal tun, vor allem in Bayern, aber da haben die ein besonderes Auge drauf, letztendlich hat sich die Gelegenheit nicht ergeben und vielleicht war auch einfach die Zeit noch nicht reif. Jetzt ist sie es irgendwie schon.
Klar wird mir das Ganze eigentlich erst, als ich nach 125 km Tour heute um 1930 Uhr vor dem geplanten Zeltplatz an einem See nahe Staßfurt stehe. Eine ältere Dame ist so nett, mich auf dem Rad dahin zu begleiten, auch wenn ich sie kaum verstehe. Sie nuschelt noch mehr als ich. Es ist eine ganze Seenplatte hier, und ich denke mir: wäre doch gelacht, wenn sich da kein Plätzchen fände. Und falls nicht, gehst du halt zurück zum Zeltplatz.
Aber das Umrunden der Seenplatte ist weniger ergiebig als gedacht. Überall sind Fußgänger, Angler, es stehen Zelten-verboten-Schilder, die ich natürlich beachte. Oder die Seen sind Tümpel, an denen es von Mücken wimmelt. Nee, dann lieber nicht.
Als ich endlich nahe einem Feld plötzlich einen Fleck entdecke, der sich ziemlich gut zum Zelten eignen würde, habe ich meinen Schwung längst verloren und beschlossen, zum offiziellen Campingplatz zurückzukehren.
Der Weg dahin führt aber plötzlich 2 Meter recht steil runter in einen ausgetrockneten Graben und auf der anderen Seite mindestens genauso steil wieder hoch. Runter geht es einfach, aber mit meinem schwer beladenen Rad und über den staubigen Boden komme ich auf der anderen Seite nicht mehr rauf. Ich stecke schließlich im Graben und komme weder vor noch zurück. Fluchend lade ich meine schwere Reisetasche ab. Vorwärts ist es aber immer noch zu steil. Ich schaffe es nur noch zurück, und komme wieder an das Fleckchen, das sich ideal zum Zelten eignen würde. Na, wenn das mal kein Zeichen ist!
Also beschließe ich kurzerhand da zu bleiben und es zu tun: wild campen! Es ist noch etwa eine Stunde bis Sonnenuntergang. Der Trampelpfad, neben dem ich zelten möchte, ist abgelegen und doch recht ausgelatscht. Aber in der Nacht wird hier keiner mehr vorbei kommen, da bin ich mir sicher. Dann eher früh morgens ein paar Frühsportler, Gassigeher oder ein Bauer. Ich sollte also nicht zu spät wieder aufbrechen.
Bevor ich mein Zelt aufschlage, gehe ich den Weg zu Ende, den ich mit dem Rad nicht geschafft hatte. Etwa 200 Meter hinter meinem Platz liegt ein See. Es ist die Rückseite desselben Sees, auf dem sich der Campingplatz befindet. Eine Senke führt hinab, das Wasser ist klar. Da ist niemand weit und breit. Ich hätte nicht übel Lust, mich auszuziehen und spontan reinzuspringen. Und dann tue ich das einfach:
Ich habe schon mal wild gecampt. Als Teenager mit zwei Freunden oder vor ein paar Jahren im Autocamper in Schweden und Nordnorwegen. Aber noch nie alleine im Zelt, geschweige denn allein im Wald.
„Wenn du ein ganzer Mann werden willst, ist eine gute Übung, einmal eine Nacht alleine im Wald zu verbringen!“
Fragt mich nicht mehr, in welchem YouTube-Video oder Lebenshilfe-Buch ich den Spruch aufgeschnappt habe. Aber er ging mir nicht mehr aus dem Kopf.
Tja, was definiert einen ganzen Mann? Was davon bin ich nicht, und muss ich überhaupt einer sein? An mir aufgefallen ist mir, dass ich schon oft den bequemen Weg gehe, deutlich harmoniebedürftiger bin als andere Männer, häufig unsicher bin und alles, was ich tue sehr oft hinterfrage. Das sind Dinge, die mich selber auch stören. Kuriert man das mit einer Nacht im Wald? Na ja, das alleine wird wohl nicht reichen. Aber schaden kann es schon nicht und ausprobieren wollte ich es schon immer mal. Also jetzt.
Ich baue mein Zelt auf und stelle es so hin, dass es zumindest nicht auf den allerersten Blick erkannt werden kann. Der Platz liegt am Waldesrand neben einem Feld. In etwa einem Kilometer Entfernung liegt eine kleine Behausung. Vor Sonnenuntergang checke ich noch einmal die Zufahrtswege. Ich treffe niemanden an, nur am See höre ich in einigen hundert Metern Entfernung noch eine andere Gruppe. Aber sie und mich trennt der Graben. Sie haben eigentlich keinerlei Grund, hierhin zu kommen.
Bevor ich mich zum Schreiben dieser Zeilen vors Zelt setze, drehe ich noch eine Runde. Es ist wunderschön hier, dazu ein traumhafter Sonnenuntergang. Ein Schwarm Vögel zieht über mir her. Als sie eine Kurve fliegen, klingt es, als würde ein Pfeil abgeschossen. Zwei Rehe hoppeln kreuz und quer über den Weg und scheinen mich gar nicht wahrzunehmen. Ansonsten bin ich alleine mit mir und meinen Gedanken.
Mein Vater war ein großer Naturfreund, mehr noch als ich. Meine Eltern waren mit uns Kindern immer in Bayern oder in Österreich – während meine Freunde mir Postkarten von Mallorca, Rhodos oder Teneriffa geschickt haben. Wir sind durch Wälder gewandert und haben aus Gebirgsbächen getrunken, gar nicht weit von der Stelle, an der ich neulich im Fichtelgebirge entlang geradelt bin.
Damals fand ich das schrecklich uncool und eintönig. Heute denke ich: war doch eigentlich sehr schön und sowieso viel mehr mein Ding. Das merke ich jetzt. Als ich dann Jahre später mal mit Freunden einen Strandurlaub auf Mallorca gemacht habe, habe ich mich schrecklich gelangweilt, mir am dritten Tag ein Fahrrad gemietet und bin damit nach Palma gefahren. Tja….
Kristine war die letzte Frau, die ich wirklich geliebt habe. Mir fallen gleich auf Anhieb 20 gute Gründe ein, warum wir nicht gut zusammen passen und es gut war, dass wir uns getrennt haben. Aber es ändert nichts daran. Liebe muss nicht logisch sein, ich vermisse sie immer noch. Und es tut gut, dieses Eingeständnis hier aufzuschreiben. 🙂
Während ich diese Zeilen schreibe, ist es Nacht geworden. Aber ganz dunkel ist es nicht, es ist Vollmond. Die Sicherheitsleuchten der zahlreichen Windräder in der Gegend (der moderne Ersatz für Kohleschornsteine) leuchten in der Ferne. Es hat bestimmt noch 22 Grad; es ist deutlich wärmer als in den Nächten davor. Grillen zirpen, es duftet nach Heu. Im Gebüsch raschelt es. Gerade kam ein lautes Brummen aus dem Wald, das wie von einem Wildschwein klang. Aber nur ein vorbeigehender Mensch würde mir gerade wirklich einen Schrecken einjagen.
Dann mal ab ins Zelt jetzt, irgendwie mit Gottvertrauen die Nacht durchstehen und als ganzer, entschlussfreudiger Kerl wieder aufwachen.. 🙂 Wird schon werden.
Mittlerweile weiß ich, was mich gestern getriggert hat. Manu und ich saßen in einem Straßencafe und wollten Neuigkeiten austauschen, als der Typ, der neben uns saß, einen alten Freund erspäht hatte, der gerade vorbei ging. Die beiden sind sich lautstark in die Arme gefallen und haben minutenlang ihr Wiedersehen gefeiert – keinen halben Meter von meinem Kopf entfernt.
Was macht man in so einem Moment? Ich hätte sie bitten sollen, sich einfach kurz hinzusetzen und am Tisch weiter zu reden. Aber ich wollte auch ihren Moment nicht zerstören. Statt dessen habe ich versucht, dagegen anzureden und bin irgendwie in eine Tonlage geraten, die mir gar nicht liegt, die ich aber ab da nicht mehr abgestellt bekommen habe. Und das hat dann diesen unguten Automatismus in mir ins Rollen gebracht. Interessant und gruselig zu gleich, wie so etwas entstehen kann.
Bin ich auf einer Tour angekommen, verlaufen die Tage meist ähnlich. Wenn auch anders als bei den letzten Malen. Ich hole mir morgens irgendwo einen Kaffee, esse meist 1x in einer Dönerbude oder, wie heute, beim Thailänder eine kleine Mahlzeit und falle am Nachmittag irgendwann in einen Supermarkt ein, Discounter bevorzugt. Denn die haben ein Regal mit frischen Backwaren, die ideal für eine Mahlzeit sind. Dazu kaufe ich Snacks, oft Eiskaffee aus dem Kühlregal oder einen to go, Und in letzter Zeit viel Mineralwasser, denn hier im Osten haben sehr viele Friedhofsbrunnen (wo ich sonst normal Wasser wieder auffülle) kein Trinkwasser.
Es ist auf jeden Fall praktisch, wie gut das Netz von Lebensmittelmärkten beinahe überall in Deutschland ist. Klar hast du nur die Wahl zwischen Penny, Netto, Aldi, Lidl, Edeka, Rewe und vielleicht mal Norma. Aber du bekommst darin zum günstigen Preis alles, was du an Lebensmitteln brauchst. Man mag den alten Tante-Emma-Läden hinterhertrauern, aber ich halte das durchaus für eine echte Errungenschaft.
Morgen soll es eigentlich „nur“ schnell die 80 km zu Gottfried (meinem Onkel) in Schöppenstedt gehen. Die würde ich am liebsten schon morgens abreißen, den Nachmittag im Pool verbringen und wenigstens mal 1/2 Tag Pause machen. Aber jetzt spricht Komoot plötzlich von einer schweren Tour. 🙄
–
So, die Mücken fallen über mich her, die Geräusche nehmen zu, ich fange an Gespenster zu sehen. Schnell ins Zelt! 🙂 Gute Nacht!
Es wird der erwartet schlappe Tag. Ich schlafe lang, dann haben mich Kerstin und Holger noch zum Frühstück bei sich eingeladen. Wir klönschnacken bis beinahe 12, dann finde ich, dass ich doch mal Richtung Leipzig losrollen sollte. Natürlich nicht, ohne mir vorher die Chemnitzer Innenstadt angeschaut zu haben:
Doch, Chemnitz ist weit hübscher als gedacht!
Die Etappe heute ist eine der einfachsten. Nur 80 km und bloß zwei nennenswerte Steigungen. Aber mein Akku scheint nach den zwei Bergetappen völlig leer.
Noch dazu kämpfe ich mit der Allergie. Meine Nase ist zu und ich fühle mich, als wäre ich von der Bergbahn überfahren worden. In einem kleinen Ort namens Lunzenau gönne ich mir ein Eis, einen Kaffee und werfe mir bei der Gelegenheit auch eine Loratadin ein. Als ich dabei zufällig mein Spiegelbild am Tresen sehe, erschrecke ich fast: Ich sehe aus, als hätte ich Drogen genommen. Liegt das wirklich an den drei Bieren gestern oder bin ich neuerdings auch gegen Ambrosia oder Beifuß allergisch?
Als es danach den Berg rauf geht, schmerzen mir die Knie und Beine…
Es wäre wohl mal Zeit für einen halben Tag Pause. Ich spekuliere auf übermorgen bei meinem Onkel im Pool. 🙂
Es ist dann 1730, als ich auf dem Zeltplatz am Markkleeberger See ankomme, etwa 10 km südlich von Leipzig. Steht da Neuseeland auf dem Schild?! Ach so, Neuseenland. Aber bestimmt fast genauso schön…
Der Platzbetreiber steht direkt draußen vor der Rezeption, als ich komme, und er flachst: „Du willst nicht dass ich mich endlich mal hinsetzen kann, hm?“ Er hat sich gerade ein Bier aufgemacht, erklärt mir kurz die Details und schließt mit den Worten: „Und dann bekomme ich von dir nen Zehner. Normal 12,50, aber…“ – guckt rüber zu seinem Bier – „gibst mir 10 Euro und es passt.“
Mit dem Rad fahre ich nach Leipzig rein, wo ich Manu treffe. Wir essen was, reden über die alten Zeiten (haben zusammen studiert), und ich bekomme sogar noch eine kleine Stadtführung. <3
Aber irgendwie triggert das was in mir. Mein ganzes, neu gewonnenes Selbstbewusstsein verpufft mit einem Mal. Dabei habe ich durchaus schon was erreicht, nicht nur hier auf der Reise, auch in meinem Leben. Fast die Hälfte der Strecke liegt hinter mir. Und auch den Aldi-Äquator habe ich überschritten. Warum mache ich mich immer so klein dabei?
Aldi-Nord-Gebiet erreicht.
Abends zurück auf dem Platz komme ich im Waschraum mit einem anderen Camper ins Gespräch. Anfangs verstehe ich nur die Hälfte, denn er sächselt stark. Später wird es etwas besser. Er erzählt mir von seinem Job in einem Flüchtlingsheim und wie ausgebrannt er sei. So sehr dass er es manchmal sogar an den Heimbewohnern auslasse, was er eigentlich nicht wolle.
Was an dem ganzen System schief laufe? Die Vernünftigen, die eigentlich wirklich Grund hätten, hier zu bleiben, weil sie wegen Hunger, Krieg oder aus politischen Gründen geflüchtet sind, könnten und würden oft schnell wieder abgeschoben. Diejenigen, die er unsanft als Drogenhändler, Vergewaltiger, Einbrecher etc. bezeichnet, dürften bleiben.
„Und wie das?“, frage ich? Wer straffällig wird, bekomme einen Prozess, sagt er, und könne in der Zeit nicht abgeschoben werden. Und solche Prozesse könnten sich ziehen. Wer dann in der Zeit noch einmal straffällig wird, bekommt noch ein Verfahren und nutzt das aus. Ein klarer Fehler im System, und diese Ungerechtigkeit halte er nicht mehr aus. Zumal diejenigen ihre Rechte genau kennen würden.
Neulich hätte sein alter Chef bei ihm geklingelt. Einfach so, wäre gerade in der Gegend gewesen, wollte mal hören, wie es ihm so gehe und ob er nicht zurückkommen wolle in den Handwerker-Job. So kommt der Fachkräftemangel auch ihm zu Gute, auch wenn sich am System dadurch natürlich nichts ändern wird.
Mit etwas Glück wird die Nacht heute nicht so kalt, ziemlich sicher aber laut. Direkt hinter meinem Zelt gehen eine Straße und eine Buslinie lang, um die Ecke noch eine, man hört die Autobahn in ca. 500m Entfernung und, ach ja, Einflugschneise scheint auch noch zu sein. Meine mitgebrachten Ohrstöpsel werden Premiere feiern. Ich murmele mich ein und träume von Neusee(n)land.
Wieder eine bitterkalte Nacht. Das darf doch eigentlich nicht sein. Wir haben Hochsommer! 🤨
Ich fürchte nur, für 10 Grad Nachttemperatur und leicht darunter ist meine Ausrüstung gar nicht ausgelegt. Der Schlafsack hält keinerlei Kälte ab, das Zelt lässt jeden Windstoß durch und wird schnell auch innen nass, und zu allem Überfluss wird die Luma die Nacht über dünner. Dabei war ich extra mit ihr im Ammersee, um zu prüfen, wo sie Luft verliert. Nichts gefunden.
Nachts um 2 wache ich auf, fröstelnd, befreie mich aus dem Schlafsack, puste noch was Luft in die Luma, ziehe zwei Pullover und lange Hosen übereinander an und versuche es so nochmal. Warm ist es nicht, aber so geht es gerade.
Um 7 klingelt der Wecker, aber es ist noch dunkelgrau auf dem Zeltplatz. Hey, so läuft der Deal nicht! Wenn schon kalte Nacht, dann morgens wenigstens Sonnenstrahlen bitte! Ich warte noch eine Viertelstunde, bis die dann endlich um die Ecke kommen, lasse mich kurz aufwärmen, dann stehe ich auf, mit gemischten Gefühlen.
Denn gestern war schon hart, aber heute kommt sie, die eigentliche Königsetappe. 118 km bergauf und bergab, noch länger, noch hügeliger, noch stärkere Gefälle. 😉
Aber gut, nit lamentieren. Stier bei den Hörnern packen! Ich bestelle mir einen Kaffee an der Rezeption, lasse mein Zelt und meine noch nicht ganz getrocknete Wäsche noch ein wenig in der Sonne baden. Um 0915 geht es los.
Ich plane, extrem sparsam zu fahren heute, den Akku nur einzuschalten, wenn es gar nicht mehr anders geht. Der Vorsatz hält genau bis zum ersten Hügel, den ich ohne Motor nicht hinauf schaffe. Ächz!
Aber kaum habe ich die bayerische „Staatsgrenze“ Richtung Vogtland verlassen, wird die Gegend noch einmal richtig hübsch. Weite Felder, kleine Bäche, Talsperren, hügelige Landschaft. Teils urige Altbauten aus (Vor-)DDR-Zeiten, teils moderne Neubauten.
Besonders gut gefällt mir dann das Erzgebirge. Alter Bergbauern-Charme:
Oder die charmanten Ortsnamen:
Nur die Strecke ist wie erwartet Hardcore. Sehr viel Steigung anfangs, und weil ich nicht genau ausrechnen kann, was da noch kommt, fahre ich die erste Hälfte der Strecke ohne Akku, wo es nur geht. Es gibt in der Tat viele Steigungen. Ähnlich wie gestern, nur heute insgesamt noch mehr Weg. Kaum eine Abfahrt genossen, schon geht’s wieder rauf. Dazu oft eine schlechte Wegstrecke und Gegenwind.
Zum Schluss immerhin habe ich genug Akku übrig, um den Rest entspannt angehen zu lassen. Ein top ausgebauter Fahrradweg, auf dem es zudem noch bergab geht, ist mit vergönnt. Ich kann die letzten 15 km immerhin völlig ausrollen lassen. Aber ich bin auch froh, mein persönliches Alpes d’Huez jetzt hinter mir zu haben.
Versöhnt werde ich mit dem Besuch bei Holger und Kerstin in ihrem kleinen „Freistaat“, einer Insel in Mitten einer alten Bergarbeiter-Siedlung von Chemnitz.
Ich habe Holger vor zwei Jahren bei meiner Radreise durch die Schweiz kennengelernt. Wir hatten wegen des angekündigten Regens beide eine Pension in Hospental genommen und abends etwas zu essen bestellt. Es war mitten im ersten Corona-Sommer, noch vor den ersten Impfungen, und das Essen sollte drinnen serviert werden. Ich tat etwas, was ich selten tue: Ich machte Aufhebens und bat, das Essen draußen auf der Terrasse essen zu dürfen. Ich hätte zu viel Angst vor den Aerosolen, die Covid übertragen könnten. Die Herbergsmutter sah verblüfft aus, aber ließ mich meinen Teller mit nach draußen nehmen, obwohl es dort langsam anfing zu nieseln. Draußen traf ich Holger, der sich nach seiner Etappe gerade ein Bier aufgemacht hatte. Wir verstanden uns auf Anhieb.
Später blieben wir in Kontakt und schrieben uns immer wieder, wenn einer von beiden gerade unterwegs war. Am nächsten Morgen übrigens hatte mir die Herbergsmutter für das Frühstück einen Platz direkt an der geöffneten Eingangstür gedeckt. 😅 Holger kam dazu und wir tauschten uns über unsere noch geplanten Etappen aus.
Meine Freude war also groß, als ich Holger nun endlich wiedersah und seine Frau Kerstin kennenlernte. Beide haben über die Jahre ein eigenes Fotostudio in Chemnitz aufgebaut. Das tolle Haus und den gemütlichen Garten haben sie sich selbst angelegt und ausgebaut. Neueste Errungenschaft ist ein Pool, derzeit arbeitet Holger daran, eine Gartenhütte zur Sauna umzufunktionieren. Es wirkt in der Tat fast wie ein eigener Freistaat.
Ich werde im Gästezimmer einquartiert, kann mich etwas frisch machen, bevor ich zum Abendessen eingeladen bin. Es gibt einen herrlichen, vegetarischen Currytopf. Beide essen kaum noch Fleisch, sagen sie.
Beim anschließenden Lagerfeuer kommen wir auf Ihre Geschichte zu sprechen. Kerstin und Holger sind beide in Chemnitz aufgewachsen und haben sich noch zu DDR-Zeiten in der Schule kennengelernt. Während Kerstin sich schon früh für die Fotografie begeistert hatte, war Holger in seiner Jugend am Ort ein halber Rockstar, der in zahreichen Bands aktiv war. Nach der Wende, 1992, nahm seine damalige Band Blaue Engel tatsächlich am Vorentscheid für den Eurovision 1992 teil – und wurde Zweiter. Danach zerstritt sich die Band und die Karriere als Popsternchen zerschlug sich. Holger sattelte zusammen mit Kerstin auf die Fotografie um, und daran arbeiten beide bis heute zusammen.
Noch vor Wende-Zeiten hatten sie etwas, was man heute wohl eine On-Off-Beziehung nennen würde, bevor dann irgendwann das erste Kind kam und sie dann ein paar Jahre später geheiratet haben. Als ich darüber staune, lachen sie. Die Sexualmoral in der DDR sei damals liberaler gewesen als in der kirchlich geprägten BRD. Klar hatte man davon schon gehört, aber Kinderkriegen vor der Ehe und On-Off-Beziehungen waren selbst für die damalige Zeit schon geradezu modern.
Mir fallen die Augen zu. Noch dazu, dass die letzten beiden Etappen echt anstrengend waren und die Nächte kurz und eisigkalt, scheine ich kein Bier mehr zu vertragen. Im Sinne von: ich bekomme dann starke Heuschnupfen-Symptome, mir schwillt die Nase zu und die Augen jucken wie verrückt. Nicht gut. Oder?
Immerhin bin ich froh, in Kerstin und Holgers Gästezimmer unterzukommen und dann nach den beiden kalten Nächten mal wieder in einem richtigen Bett schlafen zu können. Morgen geht es dann weiter nach Leipzig. Was schade ist, denn ich wäre wieder einmal gerne noch länger geblieben.
–
Das Morgentau-Lied
Text: Jürgen Vielmeier (insp. by Hoffmann von Fallersleben), Melodie: Joseph Haydn (t.b.d.)
Morgentau, o Morgentau, Wer hat dich bloß bestellt?
Das Fußende vom Schlafsack nass, die Zeltwand eingedellt.
Und gehst hinaus, kriegst’s Füße nass, die Beine schwer wie Lot.
Morgentau, o Morgentau, du Trübsal in der Not.
Ach, wartest du nur lang genug, dann brennt die Sonn‘ dich fort.
Doch selten so viel Zeit du hast, musst fort an‘ nächsten Ort.
Morgentau, o Morgentau, triffst jeden groß wie klein.
Ob 50-Euro-Festival-Bau ob Oppland-Kuppel-Zelt.
Morgentau, o Morgentau, bist’s Blödste auf der Welt.
Ich wollte eigentlich mal ausschlafen, werde dann aber doch um 0830 durch die ersten Sonnenstrahlen wach, die auf mein Zelt fallen. Mein Nebencamper aus Hannover will seinen Camper von der Steckdose losmachen, wofür der Betreiber eine Kabeltrommel auf dem Grundstück der Dauercamperin von gestern deponiert hat. Der folgende Dialog ist zum Schießen:
„Guten Morgen, entschuldigen Sie, wenn ich eben auf Ihr Gelände komme…“
„Morche, dös o koi Problem ned.:
„Na ja, ich muss den Stecker für mein Wohnmobil ausstecken.“
„Wos ist do mit däm Roadler?“
Sie meint mich. Sie hatte gesehen, dass ich gestern an der gleichen Kabeltrommel herumfuhrwerkt habe, um meinen E-Bike-Akku und mein Smartphone daran aufzuladen, beides aber inzwischen längst wieder abmontiert.
„Was? Aber der hängt da ja schon gar nicht mehr dran. Ich denke, das geht schon.“
„Se könne des Glump grod doarlorn.“
„Was?“
„Wos?“
„Nein nein, wir können die Trommel hier stehen lassen, hat der Betreiber gesagt.“
Ich höre das alles in meinem Zelt und lache mich dabei heimlich kaputt. Sie meinen beide dasselbe, aber reden völlig aneinander vorbei.
Als ich alles gepackt habe und der Dame zum Abschied zuwinke, ruft sie „Mogst noch a Koffee“ rüber.
Verdammt, die sind wirklich super herzlich, gastfreundlich – und wissen immer genau, was ich gerade brauche! 🙄 Wie machen die das nur?
Und so packe ich zusammen und gehe dann noch einmal zu der herzlichen Dauercamperin auf die Veranda. Uns gelingt ein bisschen Smalltalk. Ihr Mann ist schon arbeiten, des fängt schon um 0600 in der Früh an. Sie geht gleich noch arbeiten, als Reinigungskraft. Sie ist Dortmund-Fan, ihr Mann Bayern-Fan. Da wird’s wohl samstags nie langweilig werden. Der Kaffee ist erstaunlich gut. „Die Bohnen san frisch gemolen“, sagt sie. Vielleicht hinterfragt sie die Dinge doch etwas mehr, als ich gestern noch dachte…
Die Gegend ist wieder einmal schön, aber es geht heute 100 km über Stock und Stein. Immer wieder steil hoch, dann wieder runter, steil hoch, runter und dann gleich noch einmal steil hoch. Es gibt kaum mal eine Atempause, der Motor röllert wie besessen, einige Hügel haben über 10 Prozent Steigung, und selbst auf Stufe 2 komme ich manchmal kaum vorwärts. Traue ich den Schildern, scheine ich im Fichtelgebirge gelandet zu sein. Meine Geografiekenntnisse sind wirklich ausbaufähig. Ich dachte immer, das wäre irgendwo in Hessen gewesen. Und ich segne die Erfindung des Automobils – und des E-Bikes.
Aus dem letzten Loch pfeifend und mit fast leerem Akku komme ich ein paar Kilometer hinter Hof am Zeltplatz an.
Ich will eigentlich nur mein Zelt aufbauen, im Liegestuhl auf den See hinaus schauen, alle Viere von mir strecken und dabei ein gutes Buch lesen. Aber dazu komme ich natürlich nicht. Denn ich lerne Peter und Beate im Waschraum kennen.
Die erste Waschmaschine hat meine dreckigen Klamotten nur geschleudert, na toll. Die zweite Maschine wäscht wirklich, gibt aber danach die Tür nicht mehr frei. Sofort scharen sich die Umstehenden, die gerade beim Spülen sind, zusammen, um mir zu helfen. „Vielleicht mal mit Gewalt“, schlägt einer vor. „Nee, wirf lieber noch mal 50 Cent nach“, sagt eine Frau. „Die war vielleicht noch nicht fertig“. „Okay“, sage ich, „aber ich habe kein 50-Cent-Stück mehr“. „Och, wir haben noch viele davon“, sagt ein Mann, dessen Frau gleich neben ihm steht. „Kommste eben mit. Unser Camper steht gleich da vorne.“
Und das sind Peter aus Beate aus der Nähe von Husum. Wir tauschen ein wenig Kleingeld und reden bei der Gelegenheit ein wenig: „Wenn du auf deiner Tour da oben bist, kannst du bei uns übernachten oder im Garten zelten“, bietet Beate an. Da kennen sie mich seit noch nicht einmal 5 Minuten… „Neinein, das ist zu großzügig, aber ich werde auf jeden Fall klingeln, wenn ich vorbei komme.“
In etwas über einer Woche wäre das wohl der Fall. Wir haben Nummern ausgetauscht, und ich bin sehr, sehr gespannt, ob wir das auch wirklich durchziehen. 🙂
Heute habe ich ein paar Dinge organisiert. Ich habe allen, die ich unterwegs noch besuchen will, ein Ungefähr-Datum genannt und auf dem Klo heute Morgen eine Bahn-Fahrtkarte für kommende Woche Freitag gelöst (ich liebe Mobile Shopping). Dann wäre ich rechtzeitig wieder in Bonn, um die Vereinsmeisterschaften zu gewinnen – oder zumindest daran teilzunehmen. 😉 Auf jeden Fall bin ich jetzt auf einige Termine mehr oder weniger festgelegt.
Die Rückfahrt zu organisieren, ist derweil gar nicht so einfach. Einen Stellplatz fürs Rad habe ich nur ab Hamburg. Von Sylt bis dahin muss ich mich irgendwie mit Regionalexpressen durchschlagen, weil die Bahn nichts Anderes anbietet. Aber wird schon schief gehen. Mit Fahrrädern auf Sylt – was soll man denn damit? Das macht bestimmt keiner außer mir… 🙄
Als ich gerade in den Waschraum komme, beschwert sich ein kleiner Junge in einem bayerischen Dialekt, den ich kaum verstehe, über die beiden Powerbanks, die jemand neben den Waschbecken in eine Steckdose gesteckt hat. Die seien zu unsicher angebracht oder sowas. Ich stimmt ihm zu – und erwähne da erstmal nicht, dass die eine Powerbank von mir ist. 😬
Sie lädt übrigens nicht mehr so richtig gut. Drei Stunden am Strom und erst 2 von 4 Strichen. Das ist zu wenig.
Morgen geht es zu Holger nach Chemnitz, der mich zu sich eingeladen hat, obwohl er morgen eine kleine OP hat. Ich habe ihn vor zwei Jahren auf der Tour durch die Schweiz kennengelernt. Bin nach vier Tagen in Bayern jetzt auch ganz froh, mal wieder ein anderes Bundesland zu sehen. Keine Deutschlandreise ohne den wilden Osten!
Heute war ich einfach nur happy. Bin voll drin im Urlaub und scheine aktuell gar nichts zu verarbeiten zu haben. Da kommt sicher noch was nach. Aber jetzt gehe ich wirklich mal noch eine halbe Stunde was lesen – und mich dabei dick im Schlafsack einmurmeln. Die Nächte hier im Mittelgebirge sind also auch im Hochsommer bitterkalt.
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Notizen
Jeder See, jeder Fluss, jede Talsperre in Bayern, an der ich vorbeikomme, hat zu wenig Wasser. Die Gegend ist staubig, die Ernte auf den Feldern sieht vertrocknet aus. Die, die hier wohnen, machen sich echte Sorgen. Man kann die Auswirkungen des Klimawandels direkt an der Landschaft ablesen.
Talsperre führt sehr wenig Wasser.
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Da besser nicht als Paar hingehen. ☝️🙄
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Hof schreckt mich auf den ersten Blick völlig ab. Die Stadt hat selbst auf Radwegen kaum abgesenkte Bordsteine, Autos dominieren das Stadtbild. Und noch dazu brennt es, Hubschrauber kreisen, es wirkt surreal:
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Nachtrag: Als ich neulich die Panne hatte, hat Bene aus meiner Tischtennismannschaft etwas dazu gedichtet (!) und mir geschickt, und ich finde: er kann das! Seht selbst:
Die Nacht wird eiskalt. Meine lange Hose und mein Pullover kommen zum ersten Mal zum Einsatz. Mein Nebencamper hat Geschichte studiert und verrät mir einen guten Merksatz zu Heinrich VIII. von England – der mit den vielen Frauen – darüber, welches Schicksal sie ereilt hat:
Das hat er aber nicht an der Uni gelernt. Da hätte der Prof in der 1. Vorlesung gesagt: „Jahreszahlen und Daten brauchen Sie nicht zu lernen. Es ist wichtig, dass Sie die Abläufe und Mechanismen der Geschichte verstehen lernen. 😀“
Weise Worte – und was für ein moderner Ansatz!
Dann bei genau diesem Prof in der ersten Klausur die erste Frage: „Wann war… ?“ 🙄😅
Gelernt hat er den Spruch bei Harald Schmidt.
Das Pärchen fand ich ohnehin sehr interessant. Sehr hipstermäßig gekleidet und im Auftreten. Im ersten Moment kam von ihnen nur ein flüchtiger, rausgemurmelter Gruß und ansonsten keinerlei Anstalten, mit mir in Kontakt zu treten. Ist ja okay, keiner muss und oft bin ich auch so drauf. Aber es führte auch bei mir dazu, dass ich keinen Kontakt aufnahm, einsam neben ihnen mein Zelt aufschlug, mir über sie Gedanken machte und sie im Geiste schon mit anderen oberflächlichen Hipstern in einem Topf warf.
Als ich dann gut gelaunt vom Duschen wiederkam, weil ich praktisch mit jedem auf dem Weg von und dahin eine Viertelstunde gesmalltalkt hatte, erinnerte ich mich an mein eigenes, kürzlich aufgestelltes Motto: „Weniger annehmen, mehr reden“, fasste mir ein Herz und sprach sie einfach mit dem Standard-Opener an, einem freundlichen: „Und, wo kommt ihr her?“
Sie kommen aus Nürnberg und wirken auf mich vielleicht ein klein wenig verschroben, entpuppten sich aber als sehr nette und vor allem entgegen des ersten Eindrucks erstaunlich gesprächige Leute.
Ja, doch, erstmal ansprechen, dann auch noch eine zweite oder sogar dritte Chance geben, und wenn derjenige dann in eine Schublade gesteckt werden will, ist es dafür dann noch früh genug.
Morgens herrscht ein wenig Katerstimmung auf dem Platz, wohl aufgrund der kalten Nacht. Man grüßt sich noch flüchtig und wünscht sich eine gute Reise, aber es ist halt Morgen und nicht mehr ganz so fröhlich wie tags davor, einem Samstagabend. Hab vielleicht doch keine ewigen Freundschaften dort geschlossen, aber: muss ja ebenfalls nicht.
Mein Wecker klingelt um 8, aber ich komme schon wieder kaum raus. Ich muss die Tage wirklich mal irgendwo richtig ausschlafen…
Ich meditiere noch schnell. Und kaum habe ich meine Radlerhose angezogen und das Ventil der Luftmatratze geöffnet, bin ich hellwach.
Ich schaue raus: von den anderen Radreisenden sind auch alle noch da und packen. Die haben sich also auch nicht früher aus dem Schlafsack geschält. Einer nach dem anderen geht und verabschiedet sich. Ich packe alles zusammen, und heute sitzt jeder Griff. Um 0915 rolle ich von dannen.
Erster Halt: Regensburg. Es wird mein erstes echtes Sightseeing. Und, jasses, what a hell of a town!
Der Nachmittag auf dem Rad wird entspannt; ich komme gut voran. Da sehe ich auf einmal in der Ferne einen Typen in kompletter Heavy-Metal-Uniform, der sein E-Bike schiebt. Aber dabei irgendwie komisch läuft. Im ersten Moment, als suche er was, dann als wolle er was auf einem Schild lesen, dann geht er wieder erstaunlich mittig auf der Straße. Braucht der Hilfe?
Als ich näher komme, merke ich: nee, dem geht’s gut. Der ist nur einfach lattenstramm – um drei am Nachmittag.
Das alles wäre auch gar nicht besonders berichtenswert, wenn nicht zwei Kurven später ein älterer Herr vor mir fahren würde, der auf seinem E-Bike mäandert und sich erst zusammenreißt, als ich schon direkt neben ihm fahre. Also, auf der Party wäre ich auch gerne gewesen! Und man muss hier anscheinend auch als Radfahrer auf den Mit- und Gegenverkehr aufpassen.
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Gegen 1600 sehe ich in der Ferne einen Ort, der aussieht, als hätte er auch als Kulisse in „Game of Thrones“ dienen können. Alte Türme, Gemäuer auf einem Berg, schick und gut erhalten. Ich verlasse meine geplante Route, radel den Berg rauf, schaue mir das genauer an und komme aus dem Staunen nicht mehr heraus:
Vor allem, weil hier keiner ist! Ein paar andere Touris sind mit dem Auto raufgefahren, eine Radfahrer-Gruppe hämmert gegen die Tür des einzigen Biergartens, der genauso geschlossen hat wie die beiden Cafés am Ort – an einem Sonntag in der Hauptsaison?! Nichts und gar nichts hat geöffnet. 50 Kilometer weiter südlich in Regensburg konnte man bei ähnlicher Kulisse keinen Schritt tun, ohne auf einen amerikanischen Touristen zu treten. Und hier ist: keiner.
Es gibt sie also tatsächlich noch, diese unberührten Geheimtipps, die vom Massentourisssmus noch nicht entdeckt worden sind, obwohl sie Weltkulturerbe-Potenzial haben. Und wenn ich jetzt verrate, wie der Ort heißt, ändere ich das, richtig? Also: lieber tun oder lassen? Wollt ihr die Vor- und Nachteile des Massentourismus erleben, liebe Stadt X?
Als ich mich meinem geplanten Zielort nähere (Weiden in der Oberpfalz) und mich nach Campingplätzen umsehe, merke ich: oha! Es gibt genau einen im Umkreis von 40 km und der gehört zu einem Bauernhof, der auf einem Berg liegt. Wild campen? Wollte ich eh noch, aber dann mache ich den Fehler, das auf Google zu checken und finde heraus: in Bayern allerallerstrengstens verboten.
Und so fasse ich einen Entschluss: ich fahre da jetzt hin, und wenn die mich abweisen sollten, fahre ich einfach die ganze Nacht hindurch, denn ich bin irgendwie noch fit.
Die Auffahrt wird dann der erwartete Krampf. So steil ging es die ganze Etappe nicht bergauf. Aber natürlich weisen sie mich nicht ab, nehmen mich sogar freundlich auf, und neben etlichen Dauercampern gibt es auch nur zwei andere Durchreisende. Ein Pärchen aus Hannover und ein älterer Mann mit Württemberger Kennzeichen, der das Schild „Opamobil“ hinter die Windschutzscheibe seines Campers gesteckt hat. Die Zeltwiese ist frei.
Als ich absattele, ruft mir der Dauercamper gleich nebenan zu: „Mogst a Bier?“ Ich überlege kurz, ich muss ja noch aufbauen, duschen und so – und sage dann: ja. Warum eigentlich nicht.
Das erste Bier bekomme ich „to go“ und trinke es, während ich mein Zelt aufbaue. Als ich es zurückbringe, bieten er mir ein zweites an und bitte mich auf seine Veranda hoch.
Und das wird interessant. Denn mit Dauerncampern aus dem Bayerischen hatte ich noch nie zu tun. Sie kommen aus der Gegend, arbeiten sogar in der Nähe, sind im Sommer aber doch meistens hier oben. Sie sprechen nur Bayerisch und ein wirkliches Gesprächsthema kriegen wir nicht zu Stande.
Ich bin mir nicht sicher, aber ich habe das Gefühl, dass die Frau mich nicht versteht. Ich sie mit ihrem breiten Dialekt aber auch nicht. Sie erzählt mir vom Höhner-Konzert gestern Abend im Fernsehen, und dass der Frontmann (Henning Krautmacher) aufhöre. Und als ich erwähne, ich käme aus Bonn, ist es mir, als wüsste sie gar nicht, wo das liegt. War ja nur 40 Jahre lang die Hauptstadt gewesen. Vielleicht ist man hier auch einfach ein wenig für sich.
Während wir da sitzen, läuft ein Baseball-Match im TV im Wohnzimmer nebenan. Als ich das erwähne, geht sie schnell rein und schaltet auf den Tatort um – obwohl eh keiner hinguckt. Irgendwann kommt auch noch der Besitzer hinzu und trinkt ein Bier mit. Es geht um Kleinigkeiten. Wir reden ein wenig über den Beruf und über die Honigernte, die heute dran war.
Aber eins lässt sich nicht leugnen: Sie unglaublich gastfreundlich und beziehen mich ins Gespräch ein, so gut es eben geht. Und so fühle ich mich da irgendwie wohl. Verabschiede mich dann aber doch, muss ja auch noch duschen.
Ein Teil von mir wird das Gefühl nicht los, dass das eher einfältige Menschen sein könnten. Aber da sollte ich mir als jemand, der auch nicht die hellste Kerze auf dem Leuchter ist, eigentlich kein Urteil anmaßen. Auch wenn mir das manchmal schwer fällt.
Als ich vor dem Schlafengehen noch einmal aufs Klo gehe und mir danach mit meinem Duschgel die Hände waschen will (es gibt keine Seife), merke ich: das ist gar nicht in meiner Kulturtasche. Ich hatte es vorhin in der Dusche stehen lassen. Wenigstens hat es keiner geklaut. Als ich zurück ins Zelt gehe, baue ich meinen Campingstuhl schon einmal zusammen; den brauche ich morgens nicht mehr. Das Gestänge fällt auf einen Schuh aus meinem zweiten Paar (warum hatte ich das überhaupt ausgepackt?), prallt ab und bohrt fast ein Loch in meine Luftmatratze. Ich öffne meine Tasche, um das Ladekabel für meine Powerbank darin unterzubringen. Mache die Tasche zu, stelle fest, dass ich den Ladestecker draußen vergessen habe.
Wie gesagt: auch nicht die hellste Kerze auf dem Leuchter…
Vielleicht lasse ich das allgemein lieber mit den Urteilen über Andere…
Bin ich wenigstens gastfreundlich? Herzlich?
Ich fürchte, bei dem Wettbewerb gewinnen meine dauercampenden Zeltplatznachbarn.
Damn!
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Notizen
Camping 1&1:
Der alte Bundeswehr-Biwak-Trick, im Schlafsack weniger anzuziehen (nur Unterwäsche), damit es dadurch wärmer wird, wirkt in meinem Schlafsack so gar nicht. Ich frier mir den Honk und ziehe jetzt lange Klamotten an.
Das Smartphone ist die ideale Jukebox im Zelt: laut genug für dich selbst, zu leise als dass es sonst jemand hören würde.
Ich habe das Gefühl für Zeit und Raum verloren. Und das ist gut. Wo ich bin, welcher Tag ist und wohin ich eigentlich als nächstes fahre. Wenn heute Etappe 7 ist, dann bin ich also schon 1 Woche unterwegs und heute muss Samstag sein. Aber irgendwie ist das alles auch egal. 🙂
Der Tag beginnt wenig heroisch. Caro hatte mich gefragt, wann ich frühstücken wolle und ich hatte „8 Uhr“ gesagt. Um 0830 komme ich zu mir und hätte auch problemlos noch drei Stunden länger schlafen können. Caro steht tatsächlich schon mit allem bereit. Ihre beiden Jungs sind ähnlich unfit wie ich und kommen nach und nach an den Tisch geschlurft.
Es hat die ganze Nacht geregnet, ist morgens nur noch halb so warm wie am Vortag, und ich bummele vor mich hin. Mir fehlt die Motivation loszufahren. Ich weiß auch noch immer nicht recht, wohin ich eigentlich fahren soll. Weiter nach Norden, klar. Aber wohin genau?
Caro und ich analysieren zusammen die Karte und finden einen Weg mit einer nicht ganz so hohen Steigung durch den Thüringer Wald. Es gibt sogar einen offiziellen Radweg von Oberbayern bis an die Ostsee. Der ist insgesamt viel zu lang. Aber einen Teil davon könnte ich nehmen.
Wir lassen uns Zeit mit dem Frühstücken, quatschen danach noch ein wenig auf der Terrasse über die alten Zeiten. Direkt gegenüber ist ein Drogerie-Markt, bei dem ich mir zwei Lappen, neue Sonnencreme und zwei feste Mülltüten kaufe, in die ich bei weiterem Regen meine Reisetasche stecken könnte. Weiß ja noch niemand, wie das hier weitergeht mit dem Wetter.
Erst um kurz vor eins fahre ich schließlich los. Heute werde ich nicht weit kommen, das weiß ich schon. Und das ist okay. Erstmal einfach nur ca. 100 km weiter nach Norden und dann irgendwo auf einem Zeltplatz unterkommen. Eine entspannte Tour auf dem Rad. Als ich losfahre, fühle ich mich direkt pudelwohl. Ich bin glücklich, wenn ich fahren kann.
Und Niederbayern gefällt mir irgendwie. Es ist sehr löndlich, die Leute grüßen freundlich, in einem kleinen Ort ist ein Volksfest mit Biergarten und traditioneller Band. Es klingt fast zu klischeehaft. Ich komme durch das Hopfenanbaugebiet Hallertau, und langsam wird es wieder etwas hügeliger.
Ich lasse mir extrem viel Zeit, fahre meistens mit Akku, mache viele Pausen, Fotos, kaufe mir Brötchen und Kekse in Supermärkten und tanke Energie. Am Nachmittag kommt plötzlich doch noch die Sonne raus und es werden noch fast 30 Grad. Vor einer alten Kirche esse ich zu Abend.
Und kaum später als sonst komme ich nach 95 gefahrenen km an einem Campingplatz nahe der Donau vorbei, obwohl ich mir eigentlich einen anderen ausgeguckt habe. Mein Kopf sagt: „Weiterfahren! Die 100 voll machen!“ Mein Bauch sagt: „Steig hier ab!“
Ich höre zur Abwechslung mal auf den Bauch, erklimme den letzten Hügel vor dem Campingplatz, und so treffe ich sie dann…
Die Besitzerin, die mir zu einer Schiffstour zum Kloster Weltenburg rät. Aber dann auch wieder abrät, weil die Boote gerade wegen Niedrigwasser gar nicht fahren würden.
Der junge Vater einer Familie vom Chiemsee, die mit Rädern unterwegs ist, mit einem Aufblassack (ja, sowas gibt es!) das Aufpusten meiner Luftmatratze beschleunigen will (es dauert länger) und sich dann eine Viertelstunde Zeit nimmt, um in aller Ruhe mit mir über Belangloses zu reden.
Den Mann aus dem Schwarzwald, der mit seinem Sohn auf dem Rad unterwegs ist und der noch zwei Wochen lang immer weiter entlang der Donau gen Osten fahren will.
Das Ehepaar, das hier in Kelheim Urlaub macht, und mir zum Besuch des Hundertwasser-Dorfs, zur Jahrhunderthalle und zu diversen Brauereien rät. (Hach ja, hätte ich nur mehr Zeit…) Mit der Frau unterhalte ich mich eine Viertelstunde lang im Waschraum (der hier irgendwie unisex ist) über Ernährung, Toten-Hosen-Konzerte und Radreisen.
Das Pärchen aus Nürnberg gleich neben meinem Zelt, das einen eigenen Kanuverleih hat und hier zum Ausspannen hinkommt.
Sie alle haben Zeit und Lust zum Reden. Und ich irgendwie auch. 😀 Unterwegs hatte ich mir überlegt, dass ich heute Abend eigentlich am liebsten mit einem guten Buch im Liegestuhl sitzen würde (woraus aufgrund der vielen guten Gespräche nichts wird). Zwei klare Indizien dafür, dass ich endgültig im Urlaub angekommen bin.
Ich glaube, ich kann das jetzt, ich kann mit Leuten reden. Zumindest wenn die das auch wollen und ich selber auch Lust dazu habe. Negativbeispiel war vielleicht der etwa gleichaltrige Typ, der mir vorgestern im Biergarten unterhalb von Neuschwanstein gegenüber saß und der auch alleine war. In der Zeit, in der ich sanft an meiner Hax’n g’zupferlt und vier, fünf Bissen genommen hatte, hatte er schon seinen ganzen Schweinebraten weginhaliert. Und irgendwie wollte ich mich gar nicht mit dem unterhalten…
Angesprochen habe ich ihn dann trotzdem, und wir haben bisschen gesmalltalkt. Ich hab ihn dann sogar noch gefragt, ob er auf ein Bier rüberkommen mag, war dann aber tatsächlich eher froh, als er verneinte. Er hätte noch eine weite Fahrt vor sich.
Aber sonst sind die mir sympathischen Menschen bisher eindeutig in der Überzahl. Im Alltag rede ich auch selten mit anderen Menschen, aber ich glaube, das ist schlicht Trägheit. Eigentlich kann ich das, mag ich das, hätte ich das am liebsten täglich.
Ich habe das all die Jahre nicht gewollt und mich in mein stilles Kämmerlein zurückgezogen. Aber mir damit auch all die schönen Momente entgehen lassen, die man mit anderen Menschen erleben kann.
Mal sehen, was sich da in Zukunft machen lässt.
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Notizen
Camping-1&1:
Nichts trocknet Dinge besser als Fahrtwind. Nach 2 Stunden vorne auf dem Lenker ist jedes Kleidungsstück trocken. Vorausgesetzt, natürlich, es regnet in der Zeit nicht…
Gegen Mücken auf einem Zeltplatz, der gleichzeitig Bauernhof und nahe eines Flusses ist, helfen nicht mal zwei Lagen Kleidung und zwei Runden Autan. Aua!
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Hab mal geschaut, wie weit mein Zeltplatznachbar noch fahren müsste, um das Ende der Donau zu erreichen. Dabei festgestellt: Nur die Karpaten trennen die Walachai von Transsilvanien. Wusstet ihr auch noch nicht, oder? 🙂
Es ist wieder einmal früh morgens, als ich aufwache, ohne schon halbwegs ausgeschlafen zu sein. Der ganze Platz schläft noch. Und plötzlich fällt mir ein, dass es doch eigentlich toll wäre, noch kurz in den See nebenan zu springen, an dem ich gestern noch kurz spazieren war. Nicht immer nur schauen, auch mal fühlen. Der Forggensee ruht noch sanft in einem niedrigen Bett, der Strand ist ausgelegt mit spitzen Steinen, doch das Wasser ist warm.
Ich bin nicht all zu lange drin, mir lieber, ich komme früh los. Ich treffe meinen Nebenzelter an der Rezeption, der mich fragt, ob das zufällig meine Trinkflasche sei, die er da im Waschraum erspäht habe. Tatsächlich. Erst aufgefüllt und dann dort vergessen. Früh morgens ist selten meine Sternstunde. Tausend Dank, lieber Nebenzelter!
Aus dem diesem Zeltplatz muss man auschecken. Während ich dafür an der Rezeption stehe, kommt eine Camperin dazu, die einen leichten Akzent hat, um sich zu beschweren. Aus ihrer Vorratstruhe im Zelt habe jemand etwas zu essen entwendet. „Das war der Fuchs“, sagen die beiden Rezeptionistinnen gleichzeitig. Ach wirklich? Jaja, der sei erfinderisch und komme auch in Zelte und wühle darin herum. „Ein Fuchs, der den Reißverschluss vom Zelt öffnet, hereinkommt und dann den Reißverschluss der Vorratstruhe öffnet. Das muss ein sehr intelligentes Tier sein“, argumentiert die Frau. Achselzucken bei den Rezeptionistinnen. Die Frau dreht sich um, schüttelt den Kopf und geht.
Ich erwarte heute eine Königsetappe. Und auch wenn es am Ende keine wird: es wird heiß an diesem Tag mit Temperaturen weit über 30 Grad.
Von Füssen nach München ist es überraschend einfach zu fahren, mit mehr Gefälle als Steigungen, auch wenn die App etwas anderes suggeriert hat.
Was aber nicht nur Vorteile hat. Am Ende einer längeren Abfahrt höre ich plötzlich metallische Geräusche am Hinterrad. Es krächzt und klirrt. Da stimmt was absolut nicht. Ich halte sofort an.
Um den Fehler zu finden, brauche ich einen kleinen Moment: Die Klammer um meine Bremsbeläge hat sich gelöst und ein Pin davon ragt direkt jetzt in die Scheibenbremse rein. Dabei hat er sich außerdem so verzogen, dass ich ihn mit einem Inbus nur noch zurückbiegen kann. Aber den Bremsbelag kann die Klammer nicht mehr halten. So ein Mist, die hatte ich neulich erst ausgetauscht.
Aber ich habe riesiges Glück, ich befinde mich gerade in einer kleinen Stadt, und in der gibt es eine Radwerkstatt, die in einer halben Stunde öffnet. Mit Hilfe von Google Maps fahre ich direkt dorthin.
Als der Mechaniker erscheint und den Laden aufschließt, bin ich als erster dran. Er kommt mit raus, wirft einen Blick auf die Bremsbeläge und dann lacht er: „Ja, das stimmt, die sollten neu, aber da hat sowieso einer die falschen eingebaut, haha. Wer war das denn?“ Äh ja, wer war das bloß… 🙄
Er verkauft mir zwei Paar neue für einen – wie ich finde – stolzen Preis von 40 Euro. Aber ich bin froh über die Hilfe und zahle, ohne mir etwas anmerken zu lassen. Und dann frage ich ihn, ob er mir kurz eine Kneifzange ausleihen könnte.
Er zögert. Was, warum das denn? Na ja, damit ich die Beläge gleich auswechseln kann. Er zögert weiter: „Du willst die Beläge gleich hier auswechseln?“ – „Ja klar, warum nicht.“ Das scheint er für keine gute Idee zu halten. Ist es vermutlich auch nicht. Aber ich sehe keine Alternative. „Eigentlich leihe ich niemals Werkzeug aus“, sagt er. „Aber gut.“ Am Ende gibt er mit die Kneifzange, mit der ich die Spinde der Bremshalterungen öffnen will, und verspreche hoch und heilig, ihm sie sofort wiederzugeben.
Als ich mit der Zange draußen bin, merke ich: Das ist alles gar nicht so einfach, zumal in der Sonne, die bereits jetzt am Vormittag gnadenlos herunterbremmt. Und ohne die Möglichkeit, die Bremse irgendwie vorher sauber zu machen, das Fahrrad irgendwo abzustellen und mich in Ruhe dazu hinzusetzen. Ich werfe noch einmal einen Blick auf den Belag: Die Klammer ist zwar verbogen, aber den Pin habe ich aus der Scheibe herausgedreht, der Bremsbelag scheint trotzdem zu halten. Es schleift auch nichts.
Und so vertraue ich auf mein Glück, schiebe den Spint wieder rein, packe die gerade gekauften Bremsbeläge in meine Reisetasche und lasse die alten Beläge drin. Mal sehen, wie lange die jetzt noch halten. Dem Mechaniker gebe ich noch schnell seine Zange zurück, dann fahre ich weiter.
Die Strecke ist arm an Sehenswertem. Das Allgäu hat mich umgehauen. Oberbayern ist – zumindest auf meiner Stecke – im Vergleich dazu fad:
Bis auf die Seen natürlich. Gegen Mittag erreiche ich bei großer Hitze den Ammersee. Mir ist eigentlich danach, an einer schönen Uferpromenade im Schatten zu dinieren und auf die Weiten des Meeres (er ist echt groß) heraus zu schauen, aber viel mehr noch: einfach reinzuspringen. Und das tue ich dann einfach spontan, als ich vom Radweg aus einen kleinen Kieselstrand erspähe. Nachdem ich mein Zelt noch einmal aufbaue, damit es vom Morgentau trocknen kann, schnappe ich mir die Luma und paddele aufs Wasser raus.
Zum Trocknen lasse ich mich auf meinen Campingstuhl fallen. Zu essen gibt es eine Oliven-Nuss-Mischung. Nicht das gehaltvollste Essen, aber viel näher dran am Naturalismus, der mir eigentlich viel besser gefällt.
Während Zelt und Luma trocknen und ich kurz im Schatten entspanne, kommt ein niedlicher Hund auf mich zu gesprintet. Er erinnert mich an Lucy (Nickys und Juans leider inzwischen verstorbenes Schaf im Wolfspelz). Er stupst mich ungefragt erst von links, dann von rechts an – und seine Besitzer sind außer sich: „Whisky, kommt da weg, aber echt jetzt mal!“. Nur der Hund und ich sind erstaunlich gelassen: „Schätze, er mag mich halt“, sage ich zum Besitzer, der sich vielmals entschuldigt. Immerhin das, andere Hundebesitzer kriegen es ja gar nicht in ihren Schädel, dass manch einer nicht von ihren Hunden angesprungen werden will.
Bevor es Lucy gab, habe ich Hunde gehasst und als dumme, störende und irgendwie überflüssige Hindernisse angesehen. Dann hat dieser unverstellte niedliche Wolfshund irgend einen Schalter in mir gedrückt. Und mittlerweile freue ich mich zumindest über Begegnungen mit Hunden, die nicht aus dem Mund raustriefen. Es gibt sehr viele, sehr sehr hässliche Kläffer, die in meinen Augen wirklich die Welt nicht braucht (jaja, neinein, sicher sicher, jedes Lebewesen ist ein Lebewesen usw. Aber könnte man nicht einfach nur niedliche Hunde züchten?). Aber mittlerweile sehe ich Hunde mit anderen Augen.
Es ist so heiß an diesem Tag, dass ich mir wenig später am Schiffsanleger am Ammersee noch ein Eis gönne. Als ich direkt dahinter die S-Bahn-Station Herrsching erspähe, weiß ich immerhin: es kann nicht mehr so furchtbar weit sein bis München. Ich muss allerdings noch bis Unterschleißheim im Norden, die Sonne brennt und vor allem im Asphaltdschungel wird es später besonders heiß. Alle paar hundert Meter der Stopp vor einer Ampel ohne Schatten. Wieder los, an anderen Radfahrern vorbei, wieder eine Ampel, wieder kein Schatten.
Als ich am späten Nachmittag endlich am Ziel bin, werde ich sehr herzlich begrüßt von Caro und ihrem jüngsten Sohn. Caro kenne ich noch aus Bonner Zeiten; nach dem Studium ist sie zurück nach Unterschleißheim gezogen und hat eine Familie gegründet. Ich habe Zeit für eine Dusche und darf eine Maschien anschmeißen. Danach gehen wir an den Unterschleißheimer See, dessen Uferlinie deutlich gesunken ist. Und das schon seit Jahren, sagt Caro. Ironischerweise kündigt sich im gleichen Moment ein Unwetter an. Es wird die ganze Nacht hindurch gewittern.
Dabei weiß ich noch gar nicht genau, wohin es morgen weiter gehen soll. Regensburg wäre in einem Tag machbar, Nürnberg für einen Tag zu weit. Die eigentliche Königsetappe kommt aber ohnehin erst dann: denn da scheint noch ein Mittelgebirge zu sein, von dessen Existenz ich nichts wusste und das sich auf dem Weg nach Norden nur schwer umfahren lässt. Wo kommt das jetzt plötzlich her! 🤨 Das ist dann wohl der Nachteil der „Strategie“, einfach mal ins Blaue hinein zu fahren.
Caros zwei Jungs sind 7 und 11 und beide gut geraten. Und mit beiden scheine ich mich recht gut zu verstehen. Ich glaube, denke, behaupte, ich könnte das jetzt auch, wenn ich wollte oder müsste. Also so ein Kind großziehen… 🤔
Bin nebenbei sehr dankbar, dass ich heute bei Caro in einem Haus übernachten und etwas Schlaf nachholen darf.
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Notizen
Nicht alle mir entgegen kommende Radreise-Pärchen, aber sehr, sehr viele:
Ich ersteige der Luma mit einem ganz anderen Gefühl als zuletzt. Bin voller Energie, gut drauf und weiß instinktiv: heute wird alles klappen. Zumindest irgendwie.
Noch irgendwo zwischen Toilette, Rezeption (wo ich ohne Schlange einen Morgenkaffee bekomme) und meinem Zelt buche ich ein Ticket für Neuschwanstein. Es gibt noch eine Tour um 1600 Uhr. Zack! Wird schon klappen.
Aber dafür muss ich binnen 1 Stunde in Göppingen sein, unbedingt den RE um 0929 erwischen und mich auf dem Rad sputen. Also los.
In Rekordzeit packe ich alles zusammen und sitze um 0840 auf dem Rad. Google Maps sagt: 45 Minuten bis Göppingen, Komoot sagt: 1 Stunde. Oha, das wird knapp!
Zumal es steil bergauf geht. Und ich meinen E-Bike-Akku nicht aufladen konnte, also sparsam sein muss. Aber hier habe ich Glück im Unglück: Die Bahn-App zeigt eine Verspätung von 10 Minuten an. Und so komme ich verschwitzt aber überpünktlich in Göppingen an. Und kann sogar noch zwei Leute am Fahrstuhl vorlassen, darunter eine ältere Frau auf einem Rollator. Und genau mit der beginne ich ein Gespräch am Fahrstuhl, das wir später unten auf dem Gleis völlig unverkrampft für eine halbe Stunde fortsetzen. Weil die Bahn immer mehr Verspätung aufnimmt. Für mich ist es Urlaub, für sie eine ungewohnte Abwechslung. Meinen Anschlusszug werde ich verpassen, aber das macht mir nicht all zu viel.
Ich zücke das Handy und reserviere noch eine zweite Neuschwanstein-Führung um 1655 nach – für Presseleute, was deutlich billiger ist. Jan hat mir dazu geraten. Wenn das mal gut geht!
Als meine Bahn dann eine halbe Stunde später endlich kommt, ruft der Schaffner gleich hinaus: „Keine Fahrräder mehr, keine Fahrräder“. Na prima… Doch Glück im Unglück: direkt gegenüber steht eine RB, die auch nach Ulm fährt. Ich mache auf dem Absatz kehrt und schiebe mein Fahrrad in Richtung des erstbesten Abteils. Die Schaffnerin, die dort steht, hält mir sogar die Tür auf.
In Ulm fährt der Anschlusstug Richtung Kempten vom gleichen Gleis. Der Zug steht 1/2 Stunde vor Abfahrt da, ist noch relativ leer, aber im Fahrradabteil stehen schon zwei Fahrräder. Ich lehne meins kurzerhand an eins der beiden anderen. Ob die Besitzer das wohl okay finden? Die Frau, der das Rad gehört, kommt im gleichen Moment aus dem WC nebenan und nickt mir zu: „Machen Sie nur“.
Ich sichere mir einen Platz mit guter Sicht auf mein Fahrrad, freue mich dass ich sogar eine Steckdose am Vierersitz habe und gehe noch einmal zurück zu meinem Rad, um in der Tasche nach der Powerbank zu fischen. Im gleichen Moment setzt sich eine ältere Dame auf den Platz gegenüber und legt ihr Smartphone auf den Minitisch. Als ich wiederkomme, kramt sie in ihrer Tasche nach etwas. Sie wird doch nicht… doch sie wird. Die alte Frau schlägt mich im Schlussspurt um die einzige Steckdose. 🤨
Aber auch hier wieder Glück im Unglück. Ich komme im Laufe der Fahrt auch mit ihr ins Gespräch (das dürfte mir auch gerne mal bei jüngeren Frauen passieren…) und sie bietet mir an, dass wir uns die Steckdose gerne teilen könnten. Die erste Hälfte der Fahrt sie, die zweite Hälfte ich – worauf ich gerne zurück komme.
Erst gegen 1230 Uhr erreichen wir Kempten. Ich gebe einem Musiker, der vor dem Eingang sitzt und sich in einem kurzen Gespräch als Aussteiger vorstellt und herzlich bedankt, mein letztes Kleingeld und fahre los. Verfahre mich, hetze durch diese gar nicht einmal so hübsche Stadt und werde danach erst einmal kilometerweit bergauf geschickt. Komoot spricht von 4 Stunden, Google Maps immerhin noch von 3. Wie soll das bloß klappen bis 1600 Uhr?
Die Steigungen sind teils immens. Ich komme selbst mit Motor kaum voran. Wenn das jetzt bis Füssen so weiter geht, haben wir 1 Problem!
Tut es aber zum Glück nicht. Es wird nach und nach etwas flacher. Und als ich einen Wegweiser sehe, auf dem „Füssen 23 km“ steht, aktiviere ich die letzten Reserven. Wegweiser können Lahme zum Gehen bringen.
Als eine Baustelle meine Abfahrt versperrt und ich kurz halte, kommt ein kleiner Junge auf mich zu. Er trägt ein blau-rotes Outfit und scheint ganz und gar von dort zu kommen. „Man kann da rechts rum fahren, dann den Berg rauf und dann kommt man zum Rathaus“, hilft er mir, ohne zu fragen, wohin ich eigentlich will. „Aber ich muss nach Füssen!“, entgegne ich. „Ich glaube, ich fahre da rum, und dann passt das schon.“ – „Ja, das geht auch“, sagt der Junge. „Und wenn nicht, kann man ja irgendwo klingeln und nach dem Weg fragen.“
Sicher kann man das. 😄
Ich fliege nach Füssen oder eher Brunnen, einem Vorort, checke auf dem Campingplatz ein und bin tatsächlich um 1510 schon da. Die Sonne brennt, ich triefe, baue – wieder in Rekordzeit – mein Zelt auf und merke: das wird nichts mehr mit 1600 Uhr. Aber wieder Glück im Unglück: Die zweite gebuchte Tour um 1655 Uhr müsste ich schaffen, und tue ich dann auch. Man lässt mich rein, will keinen Presseausweis sehen (Kudos, Jan!) und dann: Neuschwanstein! Yeah!
Wobei ich zugeben muss, dass mir der Blick aus dem Fenster und der Blick auf das Schloss besser gefällt als im Schloss selbst – wo ich keine Fotos machen darf und es mir auch irgendwie düster erscheint.
Die Gegend ist wunderwunderschön. Schade, dass ich nicht länger bleiben kann und so durchhetzen muss. Aber irgendwie geht es auch nicht anders. Vielleicht ist die Tour aber auch dazu gut, um mal zu sehen, wo man eigentlich noch so Urlaub machen könnte. Im Allgäu wäre ich sofort dabei!
A propos Allgäu: Auf dem Rückweg komme ich an einem Biergarten vorbei, an dem eine Blaskapelle spielt. Es ist ein bizarres Schauspiel, aber die Bayern scheinen ihre Traditionen zu lieben. Ich komme ins Grübeln: welche Traditionen habe ich eigentlich? Man kann das sonderbar finden mit den Bayern, ihren Bergen, Bier und Blasmusik. Aber es verortet einen Bayern klar auf der Landkarte. Ich bin ein bisschen neidisch und nachdenklich – oder vielleicht einfach nur geschafft.
Telefoniere danach noch kurz mit (dem Original-Rheinländer) Jan. Fühle mich besser danach.
Und eigentlich wollte ich früh schlafen gehen. Bin total entkräftet und hab ein leichtes Schlafdefizit. Und morgen soll es in einer echten Gewaltetappe bei Hitze, Regen und Gewitter nach München gehen, wo ich Caro und Kerstin wiedersehe (freue mich). Die erste echte Etappe der Süd-Nord-Reise. Wünscht mir Glück!
Ich weiß nicht genau, woher es kommt. Mein kaputtes Fahrrad ist es schon nicht. Aber am Abend, nachdem ich mich noch mit Nico zum Tapasessen treffe, falle ich in ein Loch. Ich bin traurig wie schon lange nicht mehr und kann noch nicht mal genau sagen warum. Ist es, weil ich mich allein fühle? Weil ich denke, jeder hat mehr Spaß als ich? Niemand ist einsam? Weil ich alle meine Chancen auf eine glückliche Beziehung bisher irgendwie immer in den Wind geschossen habe? Immer noch nicht so richtig aus mir heraus gehen kann?
Viele Fragen, keine Lösung. Wenigstens habe ich ein schönes Zimmer, denke ich, und kann erst einmal ausschlafen. Und das tue ich dann auch.
Am nächsten Morgen lote ich meine Optionen aus. Ein neues Fahrrad zu kaufen, steht ebenso noch im Raum wie abends nach Bonn zurück zu fahren, wo Juan und Britta gemeinsam Geburtstag feiern (denke ich zumindest). Mein Zimmer hatte ich am Morgen schon vorsorglich um eine Nacht verlängert, was kein Problem war (außer dass ich noch einen Raum weiter ziehen muss, bald habe ich sie alle durch…)
In einem türkischen Restaurant esse ich eine Falafel zu Mittag. Der Besitzer streitet sich erstaunlich scharf vor aller Ohren mit seinem Sohn, der nach Stuttgart ziehen will. Er habe das hier alles satt, sagt der, wolle nur noch weg.
„Und was willst du da machen?“
„Arbeiten“
„Als was?“
„Ich putz da Zimmer, dann hab ich mehr Freizeit. Hier muss ich nur arbeiten.“
„Musst du da auch.“
„Aber dann habe ich frei hinterher.“
„Und machst was?“
„Freunde treffen, spazieren gehen.“
Hm.
So ähnlich habe ich in dem Alter auch gedacht. Man fühlt sich eingesperrt, hoffnungslos, alles scheint besser zu sein als das Leben, in dem man gerade steckt.
Anschließend besuche ich ein Fahrradgeschäft in der Innenstadt. Der Besitzer bietet mir ein kaum gebrauchtes Karbon-Rennrad für 1.800 Euro an, das neu etwa 6.000 bis 7.000 kosten würde. An sich schon ein prima Deal, aber mich interessiert nur eins: „Kann man da auch Schutzbleche und einen Gepäckträger drauf montieren?“. „Klar“, sagt der Besitzer, „im Prinzip schon“.
Ich verspreche, es mir zu überlegen und verlasse den Laden, als ich auf dem Handy einen verpassten Anruf entdecke – von einer Karlsruher Nummer. Ich rufe sofort zurück.
Es ist tatsächlich die Fahrradwerkstatt. Mein Fahrrad ist schon fertig, nicht mal einen Tag, nachdem ich es abgegeben habe. Ich bin sogar in der Nähe und stürme sofort in die Werkstatt. Der Besitzer schraubt es noch zusammen, gibt mir ein paar Tipps, ist sich sicher, dass ich noch bis Sylt damit komme und verlangt dann bloß 85 Euro von mir. Für das Auswuchten und eine neue Felge, was bis zu 150 hätte kosten können. Ich habe Mühe, meine Freude zu verbergen.
Und jetzt? Bei einem Kaffee in der Eisdiele unten überlege ich kurz, aber nicht lange. Schade um das schon gebuchte Zimmer, aber ich nutze es für meine gute Tat des Tages: ich schreibe dem Vermieter, dass ich im Zimmer noch nichts angefasst habe und er es, so wie es ist, auch gerne noch einmal vermieten kann. Aber ich müsse weiter.
Ich entscheide mich für den Zug und schiffe mich in Richtung Stuttgart, dann nach Plochingen ein. Nein, ist nicht ganz im Sinne einer Fahrradtour, aber ich habe schon zu viel Zeit verloren. Nur den Rest der Strecke zum Campingplatz nach Aichelberg kurz vor Göppingen fahre ich mit dem Rad, um noch ein bisschen den Kopf frei zu kriegen.
Und holla die Waldfee, ist es hier schon bergig! Und ich wollte ernsthaft ohne Motor noch so manchen Berg rauf. Ich freue mich plötzlich sehr über mein E-Bike.
Hier habe ich tatsächlich mal gewohnt:
Also genau hier…
Und: nein. Man soll nie nie sagen, aber: nein. Dahin muss ich nicht zurück. Genau genommen sogar für kein Geld in der Welt…
Mein zweitgrößtes Erfolgserlebnis heute nach der Sache mit der kostengünstigen Reparatur: Auf dem Campingplatz in Aichelberg am Fuße der Schwäbischen Alb rede ich eine Vierstelstunde lang mit meinen niederländischen Nebencampern. Auf Niederländisch. Ich verstehe fast alles und kann beinahe alles sagen, was ich sagen möchte. 😃 Gefreut haben sie sich auch.
Später treffe ich Rainer und Melanie in einem italienischen Restaurant an einem Golfplatz in der Nähe. Rainer war einmal mein Ausbildungsleiter, später ist man irgendwie in Kontakt geblieben. Das letzte Treffen ist dennoch schon rund 10 Jahre her. Rainer selbst hat die Firma gewechselt. Melanie, seine Frau, hat umgeschult und fährt jetzt Rettungswagen. Später gehen wir noch eine Runde spazieren und genießen den lauen Sommerabend, bevor ich mich – kaum die Hand vor Augen sehend – zurück zum Zeltplatz durchschlage.
Die Freude in den Augen des italienischen Küchenpersonals, bei dem wir aßen, als sie Rainers und Melanies Hunde erspähten:
Hach, Italiener…
Nebenbei: ich glaube, ich möchte eigentlich gar nicht mehr alleine arbeiten oder alleine sterben. Ich mache sehr viel alleine, weil mich andere Menschen einfach immer irgendwie überfordert haben, wenn ich sie zu lange um mich herum hatte. Aber ich merke mittlerweile: so schlimm ist das gar nicht, ich vermisse nette Vor-Ort-Kollegen und einen netten Menschen an meiner Seite.
Morgen dann der Plan, mich halb mit Bahn, halb mit Rad bis Füssen durchzuschlagen. Dann kann die eigentliche Süd-Nord-Tour beginnen – vor der ich mittlerweile einen Heidenrespekt habe.
–
Das ist übrigens Rainer neben mit. Habter mal ein Bild von einem meiner treuesten Leser 😃:
Und hier noch ein schönes Nachtbild:
Und das sollte witzig sein. ☝️ Aber ich konnte hier nicht näher ranzoomen, dann verliert es auch seinen Joke. Auto parkt halt auf dem Fahrradparkplatz…
„Oh nein, das sieht gar nicht gut aus. Und wir haben da auch nicht das richtige Zeug für“, sagt der unfassbar nette, von oben bis unten tätowierte Fahrradmechaniker mit langen Haaren. „Aber es gibt da einen Laden, der dir vielleicht helfen kann. Sag denen, dass ich dich geschickt habe!“
Und so komme ich dann nach einem sehr langen Vormittag ungeplanterweise in Karlsruhe an.
Nachts raschelt es bedenklich auf dem Zeltplatz, und hin und wieder brummt auf dem Rhein ein Kahn vorbei. Aber sonst schlafe ich wie ein Baby. Am nächsten Morgen zeigt mir mein Nebenzelter Nico die Tafel Schokolade, die er nachts vor seinem Zelt vergessen hatte 😲.
Es ist einer der schönsten Zeltplätze, die ich kenne und das Betreiber-Pärchen ist mit Herzblut bei der Sache. Aber das mit den Ratten… Na ja, solange sie dir nicht in den Schlafsack hüpfen…
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Ich bin der Letzte auf dem Zeltplatz heute, hab es nicht ganz so eilig, verabschiede mich von Nico, der Familie und dem Betreiberpärchen und fahre dann ganz gemütlich los Richtung Stuttgart.
Last Man Camnping auf dem Zeltplatz
Nach etwa 20km treffe ich plötzlich Nico wieder, der vor einer Absperrung nicht weiter kommt. Wir dachten eigentlich, dass wir unterschiedliche Wege hätten, weil er nach Karlsruhe will und ich nach Stuttgart. Aber nun fahren wir ein Stück gemeinsam. Macht Spaß, mal mit jemandem zusammen zu fahren, auch wenn es nur 5 Kilometer sind.
Muss außerdem witzig wirken, wie unsere gleichzeitig eingeschalteten Navis immer leicht zeitversetzt dasselbe sagen. Bis sie es plötzlich nicht mehr tun und ich mich von Nico verabschieden muss.
In einem kleinen Ort sehe ich das Schild zu einem Fahrradgeschäft und fahre spontan hin. Seit Tagen suche ich eine Werkstatt, die mal einen Blick auf die Acht in meinem Hinterrad werfen könnte. Aber alle Radläden unterwegs haben gerade Mittagspause, generell geschlossen oder Sommerferien. Und der nun hat jetzt auch Mittagspause ab 1300. Es ist 1300 Uhr, ich rüttele an der Eingangstür, aber sie ist zu. Na dann, wie immer. Ich sattele auf und will davon rollen. Als sich die Tür dann plötzlich doch noch öffnet, der Besitzer rauskommt – und mein Verhängnis wird. Oder sagen wir lieber: Botschafter meines Verhängnisses.
Denn er wirft ganz entspannt und mit geübtem Auge einen Blick auf mein Hinterrad, bestätigt dass das eine veritable Acht habe und das anscheinend schon lange (wusste ich) und fügt en passant hinzu dass die Felge gerissen sei. „Die wird irgendwann ganz auseinander brechen. Das wird jetzt nur noch schlimmer.“ Bis Neuschwanstein käme ich damit eher nicht mehr, geschweige denn bis Sylt.
Felge gerissen
Und jetzt? Müsste repariert werden. Entweder neues Hinterrad – kostet zusammen mit Nabe um die 600 Euro und müsste erstmal jemand da haben, jetzt, wo gerade Ersatzteilkrise ist. Oder neue Felge und dann noch mal geraderichten. Kostet etwas über 100 Euro, aber dafür müsste man erstmal jemanden finden, der passendes Werkzeug und vor allem dafür Zeit hat. Er leider nicht.
Etwas niedergeschlagen bedanke und verabschiede ich mich, lasse ihm noch den Rest seiner Mittagspause und gönne mir selbst eine. Viel ist nicht los an dem Ort, aber es gibt einen Dönermann, bei dem ich etwas Vegetarisches bestelle, und eine Eisdiele.
Plötzlich kommt mir eine verrückte Idee: Im Grunde fällt mein Bike schon halb auseinander (etwas übertrieben gesprochen). Die Gangschaltung macht schon lange Probleme, der Bremsschlitten lässt sich nicht mehr ganz festziehen, der Ständer und die Klingel, dazu manchmal das Display…. Es sind hauptsächlich Kleinigkeiten, aber spätestens nach dem Trip hätte ich das E-Bike eh verkaufen wollen und wäre auf was ohne Motor umgestiegen. Warum nicht jetzt gleich Nägel mit Köpfen machen, das alte in Zahlung geben, ein neues kaufen?
Long story short: Um 1400 stehe ich erneut in seinem Laden und schlage ihm genau das vor. Even longer story even shorter: Wir finden nichts Passendes und er dafür etliche, leider stichhaltige Gründe, warum er mein E-Bike lieber nicht in Zahlung nehmen würde. Unter anderem, weil er seinen Laden in drei Wochen für immer schließen würde. Warum, möchte er lieber nicht sagen. Aber ich ziehe geschlagen von dannen, auch wenn die Idee bleibt. Und so setze ich mich, weil der kleine Ort immerhin einen S-Bahn-Anschluss hat, in die nächste Bahn in die nächste Großstadt, in der ich mir besten Fahrradservice erhoffe: Karlsruhe.
Und kaum bin ich da, gucke ich auf Booking.com nach einem Zimmer für die Nacht (Zeltplätze sind VIEL zu weit draußen), finde eins direkt am Bahnhof mit guten Bewertungen für nur 46 Euro und fahre direkt zum ersten Fahrradgeschäft, wo ich auf den liebenswerten, hippen Mechaniker treffe. Er sei mehr auf Fahrräder spezialisiert, mit denen man von einem Haus zum anderen springen könne. Ja, natürlich… Aber in Karlsruhe wären alle Radgeschäfte miteinander vernetzt und irgendjemand würde bestimmt helfen können. Wenn nicht, solle ich ihn nochmal anrufen. Unfassbar nett…
Der nächste Laden schickt mich auch direkt eins weiter. Erst der Dritte, ein Spezialist für Rennräder, erbarmt sich schließlich meiner. Er könnte mir anbieten, das bis Ende der Woche „auszuwuchten“. Ende der Woche?! Wir haben gerade mal Dienstag. Aber ich habe mitbekommen, wie ausgelastet jede Radwerkstatt von hier bis zum Mississippi gerade ist. Und ich will nicht immer nein sagen, habe eh keine Alternative und sage erstmal zu.
Schon gut angeschwitzt durch die Fahrten durch die Stadt (dafür taugte das Rad gerade noch) schleppe ich dann meine Taschen vom Fahrradgeschäft bis zur Tram, frage eine alte Frau nach den Weg, muss umsteigen, erreiche meine Bleibe direkt am Bahnhof, gebe den Code ein, bekomme den Schlüssel, öffne die Tür und sehe, dass das Zimmer offensichtlich noch nicht gemacht worden ist:
Das nicht jetzt auch noch! Ich rufe den Vermieter an, der sofort erstaunlich hilfsbereit und emsig wird und sich vielmals entschuldigt. Und tatsächlich: binnen 5 Minuten die Lösung: ich werde kurzfristig auf das größere Nebenzimmer upgegradet, muss dafür nur eben den Schlüssel unten in der Eisdiele nebenan holen. Öh, okay.
Das tue ich dann auch noch, die Italiener sind sehr hilfsbereit und siehe, wenige Minuten später ziehe ich in ein präsidiales Zimmer in zentralster Lage. Für nur 46 Euro!
Dort liege ich jetzt und schreibe dieses Kapitel. Weil ich mich errinerte, dass Nico ja auch nach Karlsruhe wollte und wir Instagram-Kontakte ausgetauscht hatten, schreibe ich ihm und wir treffen uns noch. Trinken und essen was zusammen. Und Karlsruhe ist schon schön. Gefällt mir hier!
Und wie es jetzt weiter geht?
Ich habe noch nicht die leiseste Ahnung!
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