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Familie (Etappe 2)

Ich hatte zwei Möglichkeiten heute Abend. Mich mit einem Aperol Spritz am Mannheimer Stadtbad bei herrlicher Abendsonne an den Rhein zu setzen. Oder mit der Familie zu Abend essen, mit der ich mich bei meiner Ankunft angefreundet hatte. Etwas überraschend vielleicht habe letzteres gewählt:

Als ich nach 160 km heute endlich am Ziel ankomme, ist die Rezeption schon geschlossen. Öh. Und jetzt?!

„Kein Problem“, sagt der Camper, der mit seiner Familie direkt daneben auf der Zeltwiese sein Lager aufgeschlagen hat. „Schnapp dir einfach einen Platz und sag denen morgen Bescheid. Die schicken hier normal keine Radfahrer weg.“

Na gut, denke ich mir, das passt dann irgendwie auch zu diesem chaotischen Tag…

Die Nacht war laut und kurz, ich bin immer wieder hochgeschreckt. Und meistens war ein tuckernder Kahn auf dem Rhein die Ursache dafür. Oder ein Auto, oder ein Güterzug. Gleich hinter dem Campingplatz an der Loreley, die direkt am Rhein gelegen ist, führt die Schnellstraße B9 entlang, dahinter eine Bahntrasse. Und auf der gegenüberliegenden Seite, von der die Geräusche herüberhallen: noch einmal genau dasselbe.

Netto dürfte ich kaum Tiefschlaf abbekommen haben. Hat man dann davon, wenn man zu stolz ist, seine Ohrstöpsel zu verwenden. Um 0630 gebe ich auf und packe zusammen. Nur um dann festzustellen, dass mein quasi leeres Smartphone überhaupt nicht geladen hat. Es hat meine Powerbank über USB-C als Zubehör eingestuft und dann einfach nichts gemacht. Super!

Die Rezeption mit ihrem kleinen Campingshop hat noch geschlossen, ich fahre also auf gut Glück los, frage den Verkäufer einer Tankstelle, der mich zu einem Baumarkt weiter schickt, welcher aber noch geschlossen hat, als ich ankomme. Ein neues Ladekabel und ein paar Automatenbrötchen bekomme ich schließlich eine Ecke weiter in einem Rewe.

Irgendwie läuft heute alles schleppend. Alle paar Kilometer bremst mich was aus, ich finde den Weg nicht mehr, das Smartphone braucht 3 Stunden zum Laden und mein Rückrad eiert. Ja tatsächlich, da scheine ich eine Acht reingefahren zu haben, was natürlich sensationell ist…

Aber wenigstens das Frühstücksambiente ist dann ganz nett. 🙂

Und ein paar Kilometer weiter in Bingen komme ich zufällig an dem Zeltplatz mit Biergarten vorbei, an dem ich vor zwei Jahren abgestiegen war, und ich beschließe spontan, da meinen zweiten Kaffee zu trinken. Und weil mich erinnere, dass die das beste Helle haben, das ich je getrunken hatte, bestelle ich gleich eins mit. Biertrinken um 10 Uhr morgens?! Na ja, es ist Urlaub – und ich bin hier noch nicht einmal der einzige, der das tut. Ist an der Zeit, das mal auszuprobieren!

Stellt sich dann aber als keine so gute Idee heraus. Ich komme in schlechte Stimmung, meine Gedanken kreisen um negative Dinge. Und zu allem Übel gurke ich stundenlang in Mainz herum. Ich suche ein Fahrradgeschäft, das mir kurzfristig wegen des Rückrads helfen könnte, aber der Fahrradgroßhändler winkt ab: 2-3 Wochen Wartezeit auf einen Termin. Zwei kleine Radläden etwas außerhalb der Innenstadt: gerade Betriebsferien.

Ich esse was an einer Pommesbude und ärgere mich über mich selbst. Bisher habe ich noch kein einziges Vitamin zu mir genommen, seit ich losgefahren bin. Später suche ich einen Friedhof, um meine Wasserflasche wieder aufzufüllen, finde nur einen den Berg rauf und schalte zum ersten Mal auf der Reise meinen E-Bike-Motor an. Müde sinke ich wenig später am Rhein im Schatten auf eine Parkbank und mache erstmal ein Schläfchen:

Es ist schon 1530, als ich endlich aus Mainz rauskomme. Erst knapp 70 km habe ich geschafft. Doch dann gerate ich in den Nachmittagsflow, komme plötzlich besser voran und überlege mir kurz vor Worms, hier eigentlich Schluss für heute zu machen. Das Problem: es gibt keine Campingplätze in der Nähe, die zu erreichen wären. Der nächste ist tatsächlich erst der in Mannheim, auf dem ich vor zwei Jahren schon einmal war.

Eigentlich wollte ich an keinem Ort ein zweites Mal absteigen, aber den habe ich als gut in Erinnerung, und damals habe ich nette Leute dort kennengelernt. Und so lasse ich mich von Google Maps dahin leiten, fliege in einem Gewaltakt die letzten Kilometer nach Mannheim, schleppe mein Zeugs zwischendurch notgedrungen eine steile Brücke rauf und wieder runter, warte ewig vor einem Bahnübergang, nur um hinterher festzustellen, dass es die Brücke dahinter gerade gar nicht gibt:

Und erreiche schließlich um 19:56 die Rezeption, die eigentlich bis 2000 auf haben sollte. Na toll… Aber dann die unerwartete Hilfe durch den Familienvater.

Während ich mein Zelt aufbaue, erzählt mir sein Sohn ein bisschen was und erwähnt nebenbei, dass sie schon seit 3 Monaten unterwegs seien. Auf den Kanaren gestartet, dann über Marokko, Spanien und Frankreich mit dem Rad nach Deutschland zurück. Musstet ihr gar nicht in die Schule, frage ich? Nein, die Eltern hätten da Gesetze gewälzt und rausgefunden dass bis zu 2 Monate erlaubt sein. Der Rest dann Sommerferien. Die Schule hatte am Ende eingewilligt mit der Bitte, das nicht an die allergrößte Glocke zu hängen.

Oha, erst drei Monate die Freiheit gespürt und jetzt zurück in den deutschen Alltag… Beim Essen frage ich sie, ob sie sich darauf freuen. Die Kinder (ca. 11 und 14) so: „Jaaa!“ Die Eltern sagen nichts.

Sehr nette, sehr aufgeweckte Leute! Der Junge sagt, ihm sei aufgefallen, dass ich vor dem Aufpusten meiner Luftmatratze auf die Uhr geschaut hätte (in der Tat, ich wollte heute einfach mal wissen, wie lange ich dafür brauche, 1:30 min) und später, als mein E-Bike-Akku geladen ist, dass jetzt sogar die Leuchte am Ladegerät grün sei. Vorher habe sie orange geleuchtet. Aufmerksamer Typ das!

Ich hatte eine eigene Familie für mich eigentlich immer ausgeschlossen, weil ich mir im Geiste nicht ausmalen konnte, wie das ohne Trauer und Drama funktionieren könnte. Noch dazu habe ich sowas immer als Klotz am Bein gesehen; adé Freiheit. Aber ich sehe immer wieder Beispiele, gerade auf Campingplätzen, wo Familien eben doch gut funktionieren. Eine Familie zu haben, kann etwas richtig Schönes sein. Muss ich einfach mal anerkennen.

Während ich diese Zeilen schreibe, schnarchen hinter mir schon die ersten auf der Zeltwiese. Es ist nach Mitternacht, die Ratten quietschen. Ja, es gibt hier einige. Und ja, es stellt sich trotzdem wieder als der freundlichste Zeltplatz heraus, auf dem ich je war. Nach dem Abendessen mit der sportlichen Familie unterhalte ich mich noch eine Stunde sehr gut mit meinem Nebenzelter Nico aus Oldenburg. Sehr netter Kerl, und ich habe mir fest vorgenommen, gute Gespräche nie durch etwas wie Bloggen zu verkürzen. Aber jetzt Zeit zu schlafen. Weil morgen… hui, mal sehen!

Notizen

Es gibt sie wirklich:

Stadtbad Mannheim:

Ich habe den Kellerschlüssel, den ich neulich verloren habe und für den ich das Vorhängeschloss knacken musste, heute früh in meinem Portemonnaie wiedergefunden… ?

Fluss des sichelförmigen Mondes:

Eine Antwort auf „Familie (Etappe 2)“

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