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Weisheit (Etappe 8)

Die Nacht wird eiskalt. Meine lange Hose und mein Pullover kommen zum ersten Mal zum Einsatz. Mein Nebencamper hat Geschichte studiert und verrät mir einen guten Merksatz zu Heinrich VIII. von England – der mit den vielen Frauen – darüber, welches Schicksal sie ereilt hat:

„Divorced, beheaded, died, divorced, beheaded, survived.“

Das hat er aber nicht an der Uni gelernt. Da hätte der Prof in der 1. Vorlesung gesagt: „Jahreszahlen und Daten brauchen Sie nicht zu lernen. Es ist wichtig, dass Sie die Abläufe und Mechanismen der Geschichte verstehen lernen. ?“

Weise Worte – und was für ein moderner Ansatz!

Dann bei genau diesem Prof in der ersten Klausur die erste Frage: „Wann war… ?“ ??

Gelernt hat er den Spruch bei Harald Schmidt.

Das Pärchen fand ich ohnehin sehr interessant. Sehr hipstermäßig gekleidet und im Auftreten. Im ersten Moment kam von ihnen nur ein flüchtiger, rausgemurmelter Gruß und ansonsten keinerlei Anstalten, mit mir in Kontakt zu treten. Ist ja okay, keiner muss und oft bin ich auch so drauf. Aber es führte auch bei mir dazu, dass ich keinen Kontakt aufnahm, einsam neben ihnen mein Zelt aufschlug, mir über sie Gedanken machte und sie im Geiste schon mit anderen oberflächlichen Hipstern in einem Topf warf.

Als ich dann gut gelaunt vom Duschen wiederkam, weil ich praktisch mit jedem auf dem Weg von und dahin eine Viertelstunde gesmalltalkt hatte, erinnerte ich mich an mein eigenes, kürzlich aufgestelltes Motto: „Weniger annehmen, mehr reden“, fasste mir ein Herz und sprach sie einfach mit dem Standard-Opener an, einem freundlichen: „Und, wo kommt ihr her?“

Sie kommen aus Nürnberg und wirken auf mich vielleicht ein klein wenig verschroben, entpuppten sich aber als sehr nette und vor allem entgegen des ersten Eindrucks erstaunlich gesprächige Leute.

Ja, doch, erstmal ansprechen, dann auch noch eine zweite oder sogar dritte Chance geben, und wenn derjenige dann in eine Schublade gesteckt werden will, ist es dafür dann noch früh genug.

Morgens herrscht ein wenig Katerstimmung auf dem Platz, wohl aufgrund der kalten Nacht. Man grüßt sich noch flüchtig und wünscht sich eine gute Reise, aber es ist halt Morgen und nicht mehr ganz so fröhlich wie tags davor, einem Samstagabend. Hab vielleicht doch keine ewigen Freundschaften dort geschlossen, aber: muss ja ebenfalls nicht.

Mein Wecker klingelt um 8, aber ich komme schon wieder kaum raus. Ich muss die Tage wirklich mal irgendwo richtig ausschlafen…

Ich meditiere noch schnell. Und kaum habe ich meine Radlerhose angezogen und das Ventil der Luftmatratze geöffnet, bin ich hellwach.

Ich schaue raus: von den anderen Radreisenden sind auch alle noch da und packen. Die haben sich also auch nicht früher aus dem Schlafsack geschält. Einer nach dem anderen geht und verabschiedet sich. Ich packe alles zusammen, und heute sitzt jeder Griff. Um 0915 rolle ich von dannen.

Erster Halt: Regensburg. Es wird mein erstes echtes Sightseeing. Und, jasses, what a hell of a town!

Der Nachmittag auf dem Rad wird entspannt; ich komme gut voran. Da sehe ich auf einmal in der Ferne einen Typen in kompletter Heavy-Metal-Uniform, der sein E-Bike schiebt. Aber dabei irgendwie komisch läuft. Im ersten Moment, als suche er was, dann als wolle er was auf einem Schild lesen, dann geht er wieder erstaunlich mittig auf der Straße. Braucht der Hilfe?

Als ich näher komme, merke ich: nee, dem geht’s gut. Der ist nur einfach lattenstramm – um drei am Nachmittag.

Das alles wäre auch gar nicht besonders berichtenswert, wenn nicht zwei Kurven später ein älterer Herr vor mir fahren würde, der auf seinem E-Bike mäandert und sich erst zusammenreißt, als ich schon direkt neben ihm fahre. Also, auf der Party wäre ich auch gerne gewesen! Und man muss hier anscheinend auch als Radfahrer auf den Mit- und Gegenverkehr aufpassen.

Gegen 1600 sehe ich in der Ferne einen Ort, der aussieht, als hätte er auch als Kulisse in „Game of Thrones“ dienen können. Alte Türme, Gemäuer auf einem Berg, schick und gut erhalten. Ich verlasse meine geplante Route, radel den Berg rauf, schaue mir das genauer an und komme aus dem Staunen nicht mehr heraus:

Vor allem, weil hier keiner ist! Ein paar andere Touris sind mit dem Auto raufgefahren, eine Radfahrer-Gruppe hämmert gegen die Tür des einzigen Biergartens, der genauso geschlossen hat wie die beiden Cafés am Ort – an einem Sonntag in der Hauptsaison?! Nichts und gar nichts hat geöffnet. 50 Kilometer weiter südlich in Regensburg konnte man bei ähnlicher Kulisse keinen Schritt tun, ohne auf einen amerikanischen Touristen zu treten. Und hier ist: keiner.

Es gibt sie also tatsächlich noch, diese unberührten Geheimtipps, die vom Massentourisssmus noch nicht entdeckt worden sind, obwohl sie Weltkulturerbe-Potenzial haben. Und wenn ich jetzt verrate, wie der Ort heißt, ändere ich das, richtig? Also: lieber tun oder lassen? Wollt ihr die Vor- und Nachteile des Massentourismus erleben, liebe Stadt X?

Als ich mich meinem geplanten Zielort nähere (Weiden in der Oberpfalz) und mich nach Campingplätzen umsehe, merke ich: oha! Es gibt genau einen im Umkreis von 40 km und der gehört zu einem Bauernhof, der auf einem Berg liegt. Wild campen? Wollte ich eh noch, aber dann mache ich den Fehler, das auf Google zu checken und finde heraus: in Bayern allerallerstrengstens verboten.

Und so fasse ich einen Entschluss: ich fahre da jetzt hin, und wenn die mich abweisen sollten, fahre ich einfach die ganze Nacht hindurch, denn ich bin irgendwie noch fit.

Die Auffahrt wird dann der erwartete Krampf. So steil ging es die ganze Etappe nicht bergauf. Aber natürlich weisen sie mich nicht ab, nehmen mich sogar freundlich auf, und neben etlichen Dauercampern gibt es auch nur zwei andere Durchreisende. Ein Pärchen aus Hannover und ein älterer Mann mit Württemberger Kennzeichen, der das Schild „Opamobil“ hinter die Windschutzscheibe seines Campers gesteckt hat. Die Zeltwiese ist frei.

Als ich absattele, ruft mir der Dauercamper gleich nebenan zu: „Mogst a Bier?“ Ich überlege kurz, ich muss ja noch aufbauen, duschen und so – und sage dann: ja. Warum eigentlich nicht.

Das erste Bier bekomme ich „to go“ und trinke es, während ich mein Zelt aufbaue. Als ich es zurückbringe, bieten er mir ein zweites an und bitte mich auf seine Veranda hoch.

Und das wird interessant. Denn mit Dauerncampern aus dem Bayerischen hatte ich noch nie zu tun. Sie kommen aus der Gegend, arbeiten sogar in der Nähe, sind im Sommer aber doch meistens hier oben. Sie sprechen nur Bayerisch und ein wirkliches Gesprächsthema kriegen wir nicht zu Stande.

Ich bin mir nicht sicher, aber ich habe das Gefühl, dass die Frau mich nicht versteht. Ich sie mit ihrem breiten Dialekt aber auch nicht. Sie erzählt mir vom Höhner-Konzert gestern Abend im Fernsehen, und dass der Frontmann (Henning Krautmacher) aufhöre. Und als ich erwähne, ich käme aus Bonn, ist es mir, als wüsste sie gar nicht, wo das liegt. War ja nur 40 Jahre lang die Hauptstadt gewesen. Vielleicht ist man hier auch einfach ein wenig für sich.

Während wir da sitzen, läuft ein Baseball-Match im TV im Wohnzimmer nebenan. Als ich das erwähne, geht sie schnell rein und schaltet auf den Tatort um – obwohl eh keiner hinguckt. Irgendwann kommt auch noch der Besitzer hinzu und trinkt ein Bier mit. Es geht um Kleinigkeiten. Wir reden ein wenig über den Beruf und über die Honigernte, die heute dran war.

Aber eins lässt sich nicht leugnen: Sie unglaublich gastfreundlich und beziehen mich ins Gespräch ein, so gut es eben geht. Und so fühle ich mich da irgendwie wohl. Verabschiede mich dann aber doch, muss ja auch noch duschen.

Ein Teil von mir wird das Gefühl nicht los, dass das eher einfältige Menschen sein könnten. Aber da sollte ich mir als jemand, der auch nicht die hellste Kerze auf dem Leuchter ist, eigentlich kein Urteil anmaßen. Auch wenn mir das manchmal schwer fällt.

Als ich vor dem Schlafengehen noch einmal aufs Klo gehe und mir danach mit meinem Duschgel die Hände waschen will (es gibt keine Seife), merke ich: das ist gar nicht in meiner Kulturtasche. Ich hatte es vorhin in der Dusche stehen lassen. Wenigstens hat es keiner geklaut. Als ich zurück ins Zelt gehe, baue ich meinen Campingstuhl schon einmal zusammen; den brauche ich morgens nicht mehr. Das Gestänge fällt auf einen Schuh aus meinem zweiten Paar (warum hatte ich das überhaupt ausgepackt?), prallt ab und bohrt fast ein Loch in meine Luftmatratze. Ich öffne meine Tasche, um das Ladekabel für meine Powerbank darin unterzubringen. Mache die Tasche zu, stelle fest, dass ich den Ladestecker draußen vergessen habe.

Wie gesagt: auch nicht die hellste Kerze auf dem Leuchter…

Vielleicht lasse ich das allgemein lieber mit den Urteilen über Andere…

Bin ich wenigstens gastfreundlich? Herzlich?

Ich fürchte, bei dem Wettbewerb gewinnen meine dauercampenden Zeltplatznachbarn.

Damn!

Notizen

Camping 1&1:

  • Der alte Bundeswehr-Biwak-Trick, im Schlafsack weniger anzuziehen (nur Unterwäsche), damit es dadurch wärmer wird, wirkt in meinem Schlafsack so gar nicht. Ich frier mir den Honk und ziehe jetzt lange Klamotten an.
  • Das Smartphone ist die ideale Jukebox im Zelt: laut genug für dich selbst, zu leise als dass es sonst jemand hören würde.

Hm. ?

Schon schöne Gegend hier in der Oberpfälz.

Eine Antwort auf „Weisheit (Etappe 8)“

Herrlich, die beiden Dauercamper! Eine wertvolle Begegnung – mit Menschen außerhalb der eigenen Blase.
Und schön, deine Beobachtungen und Schlussfolgerungen hierzu.

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