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Not a care in the world

Manchmal ist es ja gut, gar nicht so viel Zeit zu haben, sich auf etwas vorzubereiten. Ich nehme mir den Freitag frei, arbeite aber ansonsten normal in dieser Woche, komme nebenher gerade mal dazu, ein bisschen zu packen. Nicky kümmert sich dankenswerterweise um den Hauptteil der Orga.

Und dann geht’s auch schon los. Donnerstagabend mit meinem bis beinahe obenhin gefüllten VW Lupo Richtung Eifel: Rock am Ring! Zum ersten Mal in meinem Leben. Und ich muss gestehen: Je näher wir dem Geschehen kommen, desto nervöser werde ich. Keinerlei Ahnung, was uns Greenhorns dort erwartet. Wo müssen wir eigentlich genau hin, wie voll ist es, wie läuft das da alles ab und: kriegen wir wohl überhaupt noch einen Zeltplatz?

Wir verfahren uns einmal, müssen an einer Straßensperrung vorbei, sehen überhaupt nur ein Schild zu unserem Camping-Abschnitt, dann ziemlich lange keins mehr und sind auf einmal ziemlich lost. Irgendwann sehen wir eine Autoschlange am Straßenrand, wir fahren langsamer und Nicky fragt die beiden Insassen im letzten Auto in der Schlange, wofür sie anstehen. Als sie „Wir denken: Green Camping“ sagen, reihen wir uns spontan hinter ihnen ein – hier noch nicht ahnend, dass die beiden später unsere Nebenzelter und Festival-Buddies werden und wir auch gemeinsam zum Green-Day-Auftritt gehen würden.

Geparkt, die ersten Sachen aufgeladen und rüber zum Eingang des Zeltplatzes geschleppt. Kurze Taschenkontrolle durch einen Späthippie, dem alles ziemlich egal ist. Er gibt uns Chip und Bändchen und lässt uns rein. Kurz hinter dem Eingang spielt die erste Gruppe enthusiastisch Flunkyball, der Platz ist schon sehr voll und wir haben ein recht großes Zelt im Gepäck. Nicky und Ursula aus unserem Nachbarauto checken den ganzen Platz und finden schließlich eine noch kleine, freie Fläche in Mitten des Geschehens. Jan und ich hocken erst einmal ab und lernen uns ein wenig kennen. Immerhin: Die beiden anderen finden was!

Als ich mein Zeug aufschultere und die letzten hundert Meter des Weges gehen will, spricht mich ein junger Typ neben mir an: „Oh, das sieht schwer aus. Komm, ich helf dir!“. Trägt einfach mit mir zusammen die schwere Kiste bis zum Platz. Als wir die Zelte aufgebaut haben, lassen wir uns erstmal kurz in die Campingstühle fallen. Ich biete Jan ein Bier an. Als der Typ ein Zelt weiter davon hört, dass wir einen Gummihammer für die Heringe brauchen könnten, besorgt er uns prompt seinen und fragt, ob wir auch einen Blasebalg brauchen (tun wir nicht). Ein Dritter kommt mit einem Teller voll (feinstem!) Grillfreisch dazu und bittet (!) uns, den anzunehmen, sie hätten viel zu viel gegrillt und bekämen das im Leben nicht mehr auf.

Die erste Nacht wird dann weniger harmonisch. Zwei Zelte in unmittelbarer Nähe haben jeweils ihre Anlage bis zum Anschlag laufen, und so werden wir die halbe Nacht von links und rechts mit völlig unterschiedlicher Musik beschallt, was für das Gehirn kaum zu computen ist. An die verordnete Nachtruhe von 1 bis 8 Uhr halten sie sich natürlich auch nicht, und so wird die erste Nacht ziemlich kurz. Im Nachhinein denke ich, wir hätten einfach mitfeiern sollen, statt zu versuchen zu schlafen. Denn die nächsten Nächte werden deutlich ruhiger und der Körper holt sich irgendwann sowieso den Schlaf, den er braucht.

Am Freitag, unserem zweiten Tag, brechen wir nach bisschen Chillen und Organisieren zum Festivalgelände auf. Ich erwarte, dass das schon nicht so weit weg sein wird, aber am Ende sind es stolze 3 km vom Zelt bis zur ersten Bühne. Und das macht irgendwann keinen Spaß mehr. Dafür ist das Wetter top und wir sehen noch das Ende der Donots. Ich wundere mich noch, warum sie etwas von den Ärzten und den Toten Hosen spielen. Das liegt ganz einfach daran, dass die Hosen als Special Guest mit aufgetreten sind. Shit, leider nur gehört, nicht gesehen, aber passt schon. Zum minutenlangen „So long“ am Schluss singen wir mit.

Wir checken die Lage am Ring, essen und trinken was, gucken Weezer (ziemlich cool), Måneskin (sehr geil) und Offspring (slightly underwhelming), aber ich gehe in mein erstes Moshpit vor Ort. Nach „Self Esteem“ umarmen sich die drei Jungs und ich uns herzlich, mit denen ich am intensivsten gemosht habe. Die Leute haben echt was nachzuholen. Und dieses Gefühl zieht sich durchs ganze Festival. Es ist nicht das beste Line-up aller Zeiten, aber eigentlich alle Leute vor Ort, Bands wie Fans und Offizielle, haben richtig, richtig Bock, nach fast drei Jahren Zwangspause mal wieder richtig Gas zu geben.

Auf friedliche Art übrigens. Die Leute sind größtenteils nett zueinander, scherzen miteinander, feiern miteinander, die Bands propagieren Frieden und „Liebe für alle“. Die Welt kann doch manchmal ganz schön gut sein.

Abends gehen wir „kurz“ zurück ins Zelt, um uns was wärmer anzuziehen und kommen kurz mit unseren Buddies Jan und Ursula aus dem Nebenzelt ins Gespräch. Sie sind beide Anfang/Mitte 20, also fast 20 Jahre jünger als wir. Sie hören deutlich mehr Deutschrap als wir, aber ansonsten auch sehr gerne Rockmusik. „Wie kann das eigentlich sein?“, fragen wir. „Als wir in unserer Jugend Nirvana, Green Day und Co. gehört haben, wart ihr doch noch gar nicht auf der Welt“. Ja, sagen sie, aber sie hätten das schon als Kinder gehört, weil es halt im Radio lief. Und heute gebe es halt so gut wie keine neuen Rock-Acts mehr.

Was mich halt immer wieder wundert – und auch ärgert: der Bedarf ist da, der Altersdurchschnitt auf Festivals wie Rock am Ring liegt gefühlt bei unter 30. Trotzdem schafft heute kaum noch eine Rock-Combo den internationalen Durchbruch. Ich sehe da einen Großteil der Verantwortung auch schlicht bei Radiosendern wie – dem mittlerweile unterirdischen – 1live. Wenn man lieber nur noch schlechten Deutschrap spielt und jeden Furz als Popsensation bringt, den Rita Ora auf Insta raushaut, statt mal einen Musikredakteur nach ein paar aufstrebenden Rockbands suchen zu lassen, ist es ja irgendwo auch klar, dass es so gekommen ist.

Ich gehe mit Jan und Ursula danach noch zu Green Day – Nicky zieht einen Abend Pause bei einem Glas Wein am Zelt vor. Der Weg hinauf zum Festivalgelände nervt langsam, aber wir unterhalten uns unterwegs prima und schauen bei Ankunft zuerst noch ein paar Minuten Marteria. Und ich bin ehrlich überrascht, wie gut das klingt und wie genial die Bühnenshow ist – obwohl das eigentlich sonst so gar nicht meine Musik ist.

Und dann Green Day! Sie sehen aus, als wären sie schon auf der Bühne zur Welt gekommen, sie spielen sauber alle Hits, sie interagieren bei jedem Song mit dem Publikum, sie machen richtig Spaß. Billy Joe holt erst jemanden auf der Bühne, der einen Song mit ihm singt. Es kommen Basket Case, She, American Idiot und Wake me up when September ends. Jan und Ursula verabschieden sich plötzlich mittendrin, um noch beim Lidl Rockstore einzukaufen, bevor es zu spät wird – ich kann es kaum fassen. Ich bin plötzlich alleine in einem Pulk voller mir unbekannter Menschen. Aber ich fühle mich nicht alleine. Es ist, als wäre ich mit den drei Jungs auf der Bühne hier und mit den anderen Menschen wie auf einer gigantischen Party verbunden.

Billy Joe fragt dann plötzlich die Fans in der ersten Reihe, wer von ihnen Gitarre spielen kann. „Du? Du? Du! Ja, wirklich? Na gut. Kommt Leute, ich brauche einen oder eine, die Gitarre spielen kann. Sind nur drei Akkorde, mehr können wir auch nicht. Du?! Ja, klasse, dann rauf auf die Bühne.“

Eine junge Frau, die einen Sonnenhut trägt, wird auf die Bühne gehoben. Billy Joe drückt ihr eine Gitarre in die Hand und setzt sich selbst ihren Sonnenhut auf. Traumhafter Moment. Sie spielen tatsächlich einen Song zusammen, Billy Joe verabschiedet sie anschließend mit einem „Thank you, I love you!“, bevor er zum letzten Song anstimmt. Es kommt mein Green-Day-Lieblingslied „Time of my Life“ und für einen kurzen Moment bin ich der glücklichste Mensch auf dem ganzen Planeten.

Spätestens am dritten Tag bin ich auch endlich in der Festivalwelt angekommen. Die Nacht ist zwar wieder recht laut, aber – das kenne ich noch vom Bund – der Körper nimmt sich irgendwann den Schlaf, den er braucht.

Es kommt der Samstag und legen einen Chilltag ein. Uns interessieren erst die Bands, die abends spielen, also schlafen wir aus, tragen schon einmal in weiser Voraussicht ein paar Dinge ins Auto, die wir im Zelt nicht brauchen, damit wir das am letzten Tag nicht mehr müssen, besuchen den Lidl-Rockstore – eine fantastische Parallelwelt neben dem Festivalgelände mit eigener Chillout-Zone, halbbesoffenen Menschenmassen am Fließband und gängeweise Festivalbedarf – und klettern die nahe gelegene Nürburg hinauf. Schon ein toller Ausblick über Festival, Campingplatz und die Eifel in allen Richtungen.

Später sitzen wir mit einem Bier im Campingstuhl without a care in the world. Wir grillen, wir trinken gemütlich Bier, wir grüßen Wildfremde, die an unserem Zelt vorbei kommen und versuchen unsere überschüssigen Bratwürstchen loszuwerden – und dann geben wir noch mal Gas. Placebo, die Kassierer, Muse! Bei den Kassierern ist am einzigen Bierstand neben der Stage allen Ernstes das Bier alle – kannste dir nicht ausdenken. Muse ist handwerklich die wahrscheinlich beste Band, die ich je gesehen habe. Placebo sind auch richtig, richtig gut. Die Kassierer eine ganz andere Liga, aber ich mag ihren trockenen Humor: „Wir sind die einzige Band mit einem Song über Quantenphysik, und weil wir ihn jetzt spielen, habe ich mir mal den Text dazu ausgedruckt und mitgebracht“. ?

Als wir um kurz vor 2 Uhr nachts am Zelt ankommen, fällt uns ein: Wir müssen noch Dosen-Ravioli auf dem Campingkocher machen und essen! Sonst ist es nicht real! Gesagt getan. Die Luft ist kalt, es schmeckt schlimm, aber wir haben damit – außer Flunkyball – eigentlich alles erfüllt, was wir uns an Festival-Must-dos vorgenommen haben.

Und so fies ist das dort alles gar nicht. Zumindest auf dem Green Camping – vom General Camping kann ich nicht sprechen, da scheint ja allerhand möglich. Aber bei uns: erstaunlich zivilisierte Zustände. Dixie-Klos, die mehrmals täglich geleert und gereinigt werden, Trinkwasser, das ebenso oft wieder aufgefüllt wird, Duschkabinen in erstaunlich gutem Zustand, wenn auch mit gefühlten 120% Luftfeuchtigkeit – in der Umkleide davor immerhin geht die Party weiter, weil ein paar Jungs einfach ihre Anlage hier mit reingeschleppt haben. Keiner fällt einem besoffen aufs Zelt und kotzt danach noch rein. Keine überlaufenden oder umgestoßenen Dixies, während du drin sitzt. Beinahe schade…

Für den letzten Tag ist Regen angekündigt. Wir sind mittlerweile dann doch langsam mit der Energie am Ende, beschließen, spätestens abends zurück zu fahren. Die Verlockung auf das eigene Bett und einen Chilltag zu Hause, bis der Alltag wieder beginnt, sind verlockender als Volbeat, Beatsteaks und Billy Talent, die uns nur so halb interessieren. So packen wir gegen Mittag alles zusammen, treffen unsere Freunde vom Nachbarzelt am Parkplatz wieder, chillen noch ein wenig und checken den Wetterradar. Für mich fehlt noch etwas, wenn ich nicht mindestens einmal nass geworden bin und im Regenponcho getanzt habe, also breche ich ein wenig vor den anderen auf, werde zumindest ein klein wenig nass und werfe schon einmal einen Blick auf The Faim (ganz nice) und Skynd (abgefahren!), bis auch die anderen kommen und wir uns noch einmal zusammen Grandson anschauen.

Endlich fängt es wirklich einmal ein wenig an zu regnen, aus dem Moshpit fliegt ein gelber Gummistiefel auf die Bühne. Grandson sprintet rüber, zieht ihn sich an, bittet um das passende Gegenstück, bekommt es und zieht auch das an. In Gummistiefeln klettert er schließlich die Balustrade hoch und singt einfach von oben weiter. Schon eine coole Aktion und tolle Show, auch wenn die Akustik auf der kleinsten Bühne leider nur mäßig ist.

Und das war es dann. Unsere beiden Freunde wollen tatsächlich noch bis zum Ende bleiben, obwohl sie noch nach Bremen zurückfahren müssen und Ursula am nächsten Tag arbeiten muss (Respekt!). Wir Alten verabschieden uns und brausen wenig später als weit und breit einzige von dannen. Ich habe kaum noch Stimme, Nicky versucht auf der Rückfahrt auffällig emsig, mich in Gespräche zu verwickeln, weil ich offenbar schläfrig wirke und wir ja noch heil ankommen wollen. Es gelingt. Während ich in meiner Wohnung die Bilder, die in der Zwischenzeit angekommen sind, in meiner Küche in Rahmen stecke, streame ich die letzten Konzerte von Volbeat und Billy Talent und fühle mich noch einmal kurzzeitig wieder vor Ort. Klar, man hätte das jetzt auch noch mitnehmen können, aber ich bereue nichts. Denn es war schön, aber dann war auch gut.

War ein großartiges Erlebnis! Und ich könnte mir fast vorstellen, das trotz meines hohen Alters noch einmal zu machen. Auch wenn ein kürzeres Festival ebenso in Ordnung wäre.

Was würde ich beim nächsten Mal anders machen? Gar nicht so viel, aber ich würde wahrscheinlich noch aufgeschlossener den anderen Leuten dort gegenübertreten, mich vorstellen, mit ihnen zusammen feiern, noch mehr austauschen. Zum Beispiel haben wir die Clique im Nachbarzelt erst beim Abbauen kurz kennengelernt. Uns einfach ohne hi zu sagen am ersten Tag direkt vor ihre Nase zu setzen, war vielleicht auch nicht die feine englische Art.

Was nehme ich von dem Ganzen mit? Warum nicht einfach die ganze Welt von jetzt an als gigantisches Festivalgelände betrachten! ? Erst einmal nett zu allen sein, das Beste, nicht das Schlechteste annehmen, sich gegenseitig helfen, mit Fremden auf der Straße quatschen. Könnte man ja eigentlich einfach mal machen. Ohnehin ein Event wie die meisten meiner Reisen bisher: So etwas wie Vorfreude kenne ich nicht, ich kenne nur den Stress in der Woche vor dem Urlaub. Aber wenn ich dann da bin – egal ob am Urlaubsort oder auf dem Festivalgelände – blühe ich auf.

Sollte ich vielleicht mit der ganzen Welt an sich so machen. ?

Daily sort-out/Epilog: Ich habe meine alten Kladden noch einmal durchgearbeitet (da war noch Material von diversen Fortbildungen drin…) und bin mit einem Campingstuhl runter auf den Frankie, um bei einem Kaffee das Buch „500 einmalige Erlebnisse: Deutschland“ noch einmal durchzublättern, bevor ich es wegminimiere. Es fing an zu regnen. Ich bin demonstrativ sitzen geblieben.

4 Antworten auf „Not a care in the world“

Moooooomemt!

Gegendarstellung zu: „ Ich gehe mit Jan und Ursula danach noch zu Green Day – Nicky zieht einen Abend Pause bei einem Glas Wein am Zelt vor.“

Nicky ist um 22:30 Uhr nach 7 std auf dem Festivalgelände nicht nochmal mit zu Greenday losgegangen, sondern ist mit einem Glas Wein am Zelt geblieben.

Dass du an dem Tag 12 Stunden Party durchgezogen hast, ist allerdings wirklich ausgesprochen respektabel!

Wunderbar, macht Lust, dass auch mal zu machen….
Ein Freund von mir war über Pfingsten auf dem WGT in Leipzig, auch tolle Bilder und Erfahrungen gemacht. ??

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