Es hat die ganze Nacht durch geregnet, gewittert und einmal auch gehagelt. Das Zelt hat so lange dichtgehalten, bis ich die gleiche Stelle zu oft berührt hatte. Aber im Großen und Ganzen alles gut. Ich ersehne mir einen entspannten Tag herbei. Aber so viel sei vorweggenommen: dazu kommt es nicht.
Ich nutze die Checkout-Zeit bis 1200 Uhr voll aus, um meine Sachen zu trocknen. Wenigstens am Morgen ist es trocken. Aber es dauert und einige meiner Sachen stinken, weil sie über Nacht nicht richtig getrocknet sind. Mist.
Anyway. Um 1200 breche ich auf und nehme die Tour um den Vierwäldstätter See. Eine weise Entscheidung. Hier wird die Schweiz langsam zu dem, woran man denkt, wenn man an die Schweiz denkt. Ein unglaubliches See- und Bergpanorama.
Der Tourguide empfiehlt dringendst, die 11km von Brunnen nach Fluelen nicht auf der unabgesicherten Schnellstraße, sondern auf dem Boot zurückzulegen. Dem komme ich gerne nach, und auch das ist, wenn auch vielleicht sonst nichts, dann auf jeden Fall optisch, eine weise Entscheidung.
Ich komme kaum voran heute, es liegt schlicht daran, dass ich alle paar Meter anhalten und Fotos der wahnsinnig hübschen Landschaft schießen muss. In Fluelen, nach gerade mal 30 km heute und um etwa 1600 Uhr, habe ich dann auch schon genug. Ich sehne mich danach, alle Viere von mir zu strecken, zu lesen, vielleicht sogar schwimmen zu gehen. Das alte Spiel beginnt: Nach einem Campingplatz in der Nähe suchen, kurz die Bewertungen checken, und dann los. Einer ganz in der Nähe hat gute Bewertungen, er sei toll gelegen und die Besitzerin sei sehr hilfsbereit, heißt es da. Hin!
Als ich ankomme, sieht die Dame wenig begeistert aus. Leider alles voll und ausgebucht und wegen Corona könne man auch nicht mal eben ein Zelt dazwischen schieben. Ich deute auf eine noch fast leere Wiese am Ende des Platzes. Nein. Leider nichts mehr zu machen. Oha. Klar, musste ich damit rechnen, irgendwann mal einen vollen Campingplatz zu erwischen, aber dass ausgerechnet sie mich so undiplomatisch abweist… Hätte ich nicht mit gerechnet.
Was mache ich denn jetzt? Andere Campingplätze am Ort sind 5km in der Richtung, aus der ich komme, und zurückfahren… Der nächste ist erst wieder in Andermatt und das wäre laut dem Tourguide eine ganze weite Etappe von 40km und vor allem 1000 Höhenmetern. 3h Fahrt laut Google Maps. Die Alternative wäre, sich an Ort und Stelle (Flüelen) n einem Hotel einzuquartieren. Wäre nicht billig aber könnte ich mir im Notfall leisten. Wollte ich mir auch dafür aufheben. Aber ist das jetzt wirklich ein Notfall? Und wenn nicht heute, dann müsste ich halt morgen da oben hoch.
Ich beschließe, die Höllentour nach Andermatt zu machen. Vorher rufe ich den einzigen Campingplatz am Ort an um mich zu vergewissern, dass die Fahrt auch nicht umsonst sind. Neinein, wäre kein Ptoblem, sagt der erstaunlich entspannt klingende Schweizer am anderen Ende. Die Rezeption wäre bis 2000 Uhr besetzt und Platz wäre auch noch. Alles klar, ich fahre los.
Die ersten 20km sind beinahe flach. Was ist denn das, stimmte das Höhenprofil nicht? Das zeigte eine langsam gleichmäßig ansteigende Linie an. Steige ich schon und merke das gar nicht?
Ich gebe Gas, ich will nicht zu spät kommen. Etwa 20km vor Andermatt wird es doch langsam steil. Es ist heiß, heute scheint praktisch nur die Sonne. Ich schwitze aus allen Poren. Schaffe ich es noch rechtzeitig?
Da plötzlich sehe ich einen Wandersmann mit Campingausrüstung an der Straße gehen. Wo kommt der denn jetzt her? Es ist 1730, mich kann man auswringen, er sieht aus wie aus dem Ei gepellt. Ich spreche ihn an.
Wo er hingehe? – Wisse er noch nicht genau.
Wo er übernachte? – Auch nicht, mal sehen.
Ob er wisse, dass der nächste Campingplatz 20km in alle Richtungen weg sei? – Nein, aber das wäre kein Problem, er schlafe meist unter freiem Himmel.
Oh, und das gäbe keinen Ärger mit der Polizei oder so? – Nein, bisher nicht.
Er sagt, er sei aus Polen, seit 30 Tagen unterwegs und er gehe den Jakobsweg von Polen nach Santiago.
30 Tage?! Und schon in der Zentralschweiz? – Ja, er gehe so 30 km am Tag.
Ich weiß nicht. Entweder er ist der tiefenentspannteste Dude, den ich jemals getroffen habe oder er bindet mir gerade einen ganzen Grizzly auf die Schulter. Etwa eine Stunde später rast ein Motorradfahrer an mir vorbei, der einen ziemlich ähnlichen und ähnlich bepackten Rucksack trägt wie er. Der wird doch nicht…
Auf jeden Fall gibt mir die kurze Begegnung Hoffnung: Das wird schon alles irgendwie, und wenn nicht, dann geht im Notfall immer noch heimlich wild campen.
Die Straßen werden steiler. 1500 Höhenmeter auf den nächsten 34km sagt das Schild. 20 davon habe ich noch vor mir. Und jetzt geht es wirklich bergauf. Nicht Alpes d’Hues-mäßig nur noch bergauf, es geht zwischendurch auch mal wieder ein bisschen bergab, aber schon deutlich nach oben. Der Akkustand geht dabei ganz schön schnell in die Knie.
An jedem Ort auf dem Weg, der mit einer schönen Holzfassade, Bergpamorama und „Zimmer frei“ wirbt, bin ich kurz davor schwach zu werden. Warum nicht einfach hier bleiben, so, für immer?
Göschenen wirbt am Ortsschild mit „Willkommen im Paradies“ und das ist gar nicht mal so falsch. Die Gegend entschädigt für die Strapazen. Die Sonne scheint auf kilometerhohe, grasbewachsene Berge, auf denen Almhütten stehen, Wasserfälle rauschen herunter, die Sonne taucht blutrot hinter Bergen auf, sogar Ziegen tragen Glocken, alte Kirchen mit großen Uhren säumen das Panorama. Es ist wunderschön hier.
Aber jetzt schaffe ich den Rest auch noch. „6km“ heißt es am Ortsausgang von Göschenen bis Andermatt. Nen Klacks.
Am Ende des Ortes macht die steile Straße plötzlich einen Bogen, und dann noch einen. Im Hintergrund sehe ich die Autos in ziemlicher Höhe in Serpentinen den Berg hochfahren. Aber das ist ja nur der Weg für die Autos, oder? Oder??
Nein, ich soll da irgendwie auch hoch. Die Straße schlängelt und schlängelt sich, und ein Andermatt ist nicht in Sicht. Ich quäle mich rauf, so gut ich kann. Aber bald ist der Akku im roten Bereich, und ich auch. Wo ist dieses Dreckskaff? Warum kommt da nichts? Ich müsste doch schon längst… Oder nicht.
Am Ende meiner Kräfte und mit fast leerem Akku beschließe ich so weit zu fahren, wie es geht. Und dann zur Not zu schieben. Mehr als 3km können es eigentlich nicht mehr sein. Und dass ich nach all den Eindrücken und Strapazen irgendwie so gar keine Lust mehr auf Campingplatz habe. Lieber nach Almhütte.
Irgendwie erreiche ich den Ortseingang von Andermatt. Und endlich wird es was flacher. Im Ort suche ich auf Booking.com nach Hotels oder Hütten, aber es ist tatsächlich fast alles ausgebucht. Bis auf eine Ferienwohnung im Skiclub für 140 Franken die Nacht (billig für Schweizer Verhältnisse). Ich rufe an und stehe 3 Minuten später an der Rezeption.
1 oder 2 Nächte, fragt die Rezeptionistin, die sich liebevoll um mich kümmert. Ganz ehrlich, ich weiß es noch nicht. Denn vor mir steht der Gotthard, der hat 20km, die sind wie heute die letzten 6 sind.
Und da graut mir jetzt schon ein bisschen vor…
(Hab heute keine Kilometerangaben. Weiß nicht mehr genau was wo, aber müssten so 70km (gefühlt 200) gewesen sein. War halt alles hübsch, seht ihr ja.)
6 Antworten auf „.59: Andermatt“
Wirklich tolle Gegend da!wo du bist.
Und dazu kannst du bestimmt hervorragend schlafen…
Meine Fresse, ist das schön da!
Ich kenn den Vierwaldstätter See nur von der Autobahn aus und hab mir jedes Mal gedacht „müsste man eigentlich mal
Hin“.
Krass, dass du so gekämpft hast noch zu dem Camping in Andermatt zu kommen und dann echt in ne Fewo bist ?
Jürgen, denke daran, dass am Samstag 01.08. der Rüblischwur ansteht, sprich Nationalfeiertag in der Schweiz ist.
Gibt da normalerweise schöne Feiern und so, dieses Jahr wohl weniger…
Wir bekommen zum Ausgleich dass du in der Schweiz bist heute Besuch von dort. Somit Saldo DE – CH wieder ausgeglichen! ?
Rütlischwur, keine Rüben… ?
Ja, irgendwas ist hier los am 1.8. Geschäfte haben noch kürzer auf als eh schon. Dann lasst uns schwören und grüßt mir den Schweizer Besuch!
In der Schweiz herrscht doch das Jedermannsrecht! Einfach das Zelt aufschlagen und hinlegen!