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Am Ziel? (Etappe 19)

Es regnet tatsächlich die halbe Nacht durch, aber dann ist es auch gut. Mein Zelt hat dicht gehalten. Am Abend, als einige Tropfen auf meinen Kopf fielen, hatte ich da noch so meine Zweifel.

Meine Zeltnachbarn im Wohnmobil machen sich schon um 0700 lautstark auf den Weg und wecken mich damit. Ich drehe mich nochmal um, starte eine Meditation, stehe dann ganz langsam auf, mache mich fertig, packe das nasse Zelt ein, checke aus, und es ist dann trotzdem erst 0900.

Nasse Zelte sind ein Thema für sich. Idealerweise würde man so bis 1200 Uhr warten, bis im Sonnenschein alles getrocknet ist, aber dann wäre der halbe Tag rum. Deswegen packt man morgens doch lieber das nasse, allenfalls grob getrocknete Zelt ein. Ist nicht hübsch, muss aber irgendwie gehen. Es entglorifiziert allenfalls das etwas romantisierte „Im Frühtau zu Berge“. Das ist als Pilger oder Radwanderer mit Zelt einfach nur fies und unangenehm und sonst nichts.

Ich habe gestern gar nicht groß geschaut, wo ich eigentlich genau bin, und stelle dann morgens fest, dass es direkt neben dem Hafen ist, von wo die Fähren nach Föhr und Amrum abfahren. Den Anleger schaue ich mir noch an, und ein Teil von mir würde am liebsten direkt mitfahren. Aber das wäre nicht das Ziel dieser Reise.

Was ist eigentlich das Ziel dieser Reise? Neben dem Unterwegssein, dem Abbauen von Ängsten und dem Kennenlernen von Menschen ein wenig noch herauszufinden, wo es in diesem Land schön ist, wo man vielleicht das nächste Mal hinfährt, um es sich noch etwas genauer anzuschauen. Der reflexartige Gedanke an ein Flugzeug, wenn es in den Urlaub gehen soll – Zukunft hat der eh nicht.

Nach einem schwarzen Kaffee im Café nebenan (mir fehlt beim Intervallfasten in letzter Zeit immer nur eine halbe Stunde) ist es immer noch erst 0930. Ich habe noch ein wenig Lust auf Bewegung und beschließe, meinen optionalen letzten Abstecher doch noch zu machen.

Ich fahre nach Dänemark. Ein chinesisches Sprichwort, das ich nicht mehr ganz zusammen bekomme, lautet sinngemäß: du weißt erst, wie es bei dir aussieht, wenn du dein Haus vom Anwesen deines Nachbarn aus gesehen hast. Und so möchte ich zumindest kurz über die Grenze hüpfen, um mir die Unterschiede anzuschauen, in die Kleinstadt Tønder.

Schon kurz vor der Grenze reiht sich dänischer Supermarkt an dänischen Supermarkt. Ich schaue rein, würde Brötchen kaufen, aber finde keine und shoppe statt dessen ein paar Haribo. Die Verkäuferin wechselt von akzentfreiem Dänisch auf akzentfreies Deutsch. Bemerkenswert.

Direkt hinter der Grenze wird der Radweg besser, die Häuser haben noch eine ganz andere Form, die Leute hissen mehr Nationalflaggen. Eine Blechlawine schiebt sich aber auch hier über die Hauptstraße, ein paar Transporter haben sogar fulminante Oldtimer geladen. Aber an den Nebenstraßen ist es gespenstisch still. Kurz vor dem Ort komme ich an Brombeersträuchern vorbei und pflücke mir ein paar.

Bromberen zu pflücken scheint in der Gegend weniger bekannt zu sein als in Deutschland. Vorbeifahrende Radfahrer gucken mich komisch an, sagen aber nichts. Und da fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Der Grund, warum ich manchmal sehr lange für Dinge brauche und manchmal gar nicht, ist mein inneres Versteckspiel. Ich versuche, bloß nicht aufzufallen, um mir keinen blöden Spruch einzufangen, weil das in meiner Jugend und meiner depressiven Phase oft passiert ist. Andere meinen, unsicher wirkenden Menschen eher mal einen blöden Spruch stecken zu können.

Heute ist das aber längst nicht mehr der Fall – außer, wenn ich auf Campingplätzen meine Luftmatratze aufpuste, da kommt meist gleich einer mit einer Pumpe angelaufen. Das ist aber eigentlich immer nett gemeint. Ich könnte diese innere Abwehr mal zum Schweigen bringen, denn ich bin längst aus dem Alter raus, in dem ich mir noch blöde Sprüche drücken lasse.

Nebenbei: Ich habe mich noch nie an Brombeeren satt gegessen. Ob ich das einfach mal versuche? Ich pflücke Dutzende und esse sie sofort. Aber es reicht nicht: Als ich kurz darauf in Tønder einen Hotdog-Stand sehe, also etwas typisch Dänisches, greife ich zu – und habe danach noch mehr Hunger als vorher.

Tønder ist klein, aber hat eine hübsche Fußgängerzone. Auf dem Weg raus komme ich an einem Kleingartenverein vorbei (sowas gibt es also da auch) und wieder durch ein Wohngebiet, das gespenstisch ruhig da liegt. Warum ist hier niemand?! In jedem deutschen Wohngebiet spielen auch tagsüber irgendwelche Kinder. Rentner und halbtags Arbeitende machen was an ihren Gärten. Hier ist niemand. Ich bin froh, als ich da wieder raus bin.

Aber für ein paar Erkenntnisse hat sich der kleine Umweg gelohnt. Und irgendwie wollte ich auch die wegen meiner Panne versäumten 40 Kilometer von Peine nach Hannover insgeheim noch irgendwie nachholen.

Es dauert nicht lange danach, und ich stehe am Bahnhof Klanxbüll. Wird das wohl klappen mit dem Fahrradtransport? Neben einigen Passagieren steht mit mir nur noch ein weiterer Typ mit einem Rennrad am Gleis. Aber Klanxbüll ist die letzte Station vor dem Damm. Niemand kann sagen, wie voll der Waggon schon ist. Als die Bahn kommt, ist das hintere Fahrradabteil völlig verwaist. Watt’n Glück.

Die Fahrt dauert nur wenige Minuten. Schon weit vor Westerland macht sich der Typ mit dem Rennrad wieder bereit. Und tatsächlich: es gibt einen Stopp direkt hinter dem Damm, an dem ich dann auch mit raus gehe: Morsum.

Die Überfahrt ist also geglückt, ich bin auf Sylt! Yeah! Das Wetter ist okay. Es ist wolkenverhangen, die ganze Zeit sieht es so aus, als würde es bald regnen, was dann aber nie passiert. Ich hatte unfassbares Glück und bin tatsächlich kein einziges Mal auf meiner Tour in einen Regenschauer geraten. Dabei hätte ich mir manchmal in der elendigen Hitze sogar einen herbei gewünscht.

Jetzt kommt aber langsam die Sonne raus und ich esse erstmal was, noch am Gleis stehend. Nach ein paar Minuten kommt ein älterer aber stabiler Herr schnellen Schrittes in meine Richtung. Was der wohl will. Ich rufe freundlich „moin“, als er auf meiner Höhe ist. Er aber geht an mir vorbei zu den Brombeerströuchern weiter hinten am Gleis und murmelt im Vorbeigehen: „E-Bike-Fahrer grüße ich grundsätzlich nicht.“

Das darf doch nicht wahr sein. ? Der erste Mensch, dem ich auf Sylt begegne, und er kommt mir gleich so. Ich hoffe mal, das ist Zufall und kein Vorgeschmack auf die Gepflogenheiten auf der Insel.

Die übrigens superschön ist. Küsten, Strände, zerklüftete Buchten, wunderbar erhaltene oder restaurierte Landhäuser, Dünen. Und just gerade blüht die Heide – beinahe schöner als in der Lüneburger Heide. Und noch dazu gibt es Strandkörbe, Restaurants, Partymöglichkeiten. Ja, ich kann den Hype um diese Insel verstehen!

Und was den E-Bike-Hasser von gerade angeht: ich zähle mit: die nächsten acht Radfahrer grüßen freundlich zurück. Im Gedächtnis bleibt natürlich trotzdem der frotzelige Kerl. Was mich kurzzeitig sogar veranlasst zu denken: „Wenn das hier so läuft, soll ich dann die Anderen überhaupt noch grüßen?“

Ich glaube, in der Kindheit und Jugend begeht man den Fehler nur all zu oft. Man fragt die Böckerei-Fachverkäuferin freundlich um eine Serviette. Die hat einen schlechten Tag oder mag keine Kinder, raunzt dich an, du schrickst zurück und speicherst völlig übertrieben die Generalisierung in deinem Kopf: „Verkäuferinnen nie um einen Gefallen bitten, die mögen das nicht.“ Später bekommst du bei jedem Besuch einer Bäckerei ein mulmiges Gefühl. Solche Glaubenssätze sollte man nach und nach überschreiben. Danke, mürrischer E-Bike-Hasser für diesen Anstoß!

Gegen 1500 schlage ich am Zeltplatz auf und bekomme von der sehr hübschen, sehr netten und sehr hilfsbereiten (und leider schon einen Ring tragenden 😉 Rezeptionistin mitgeteilt, dass auf dem Platz 4 Übernachtungen Minimum vorgeschrieben wären. Vier?!

Aber ich bin so gut drauf heute, dass nichts das ehrliche Lächeln auf meinem Gesicht wegzaubern kann. Ich sage schon „danke“ und wende mich zum Gehen, als die Rezeptionistin mich noch aufhält: warten Sie mal bitte kurz. Sie redet dann mit ihrer Kollegin, ich lasse mein charmantestes Lächeln aufgesetzt. Und das Ende vom Lied ist: ich darf doch nur für einen Tag bleiben. Zum zweiten Mal heute: Yeah!

Der Zeltplatz liegt in den Dünen. Es ist so windig, dass mein noch nass eingepacktes Zelt, einmal aufgebaut, schon 15 Minuten später getrocknet ist. Ich mache einen kurzen Nachmittagsschlaf, dann packe ich ein paar Sachen zusammen, denn es wartet noch die finale Tour: in den äußersten Norden zum nördlichsten Punkt Deutschlands.

Gegen 1700 komme ich los und merke unterwegs erst, wie schön die Insel wirklich ist. Nicht nur, weil die Heide blüht. Die Landschaft verändert sich auch alle paar Kilometer. Plötzlich meine ich, auf Island zu sein. Die Gegend erinnert mich stark daran.

Ich fahre das letzte Stück ohne Motor. Und es ist noch einmal richtig anstrengend. Ich habe Gegenwind, es geht bergauf, die Wegstrecke in den Lister Ellenbogen ist richtig mies, gleicht einem Flickenteppich. Das Navi leitet mich völlig fehl, und am Ende fahre ich deswegen fast 5 km zu viel. Und dann am Schluss endet der befestigte Weg ganz und wird zu Sand.

Ich könnte mein Fahrrad stehen lassen und den Rest zu Fuß gehen. Aber ich schiebe es durch die Dünen. Wir haben diesen Weg gemeinsam zurückgelegt. Jetzt gehen wir auch den Rest zusammen. Drei Dünen später sehe ich das Meer und in etwa dreihundert Metern Entfernung: der nördlichste Punkt Deutschlands! Ich bin am Ziel meiner langen Reise:

Und wie Beate gestern (war es wirklich erst gestern?!) prophezeite, ist der Strand menschenleer. Soll ich…?!

Davor warnt ein Schild: hier wegen nicht geräumter Braken, gefährlicher Strömungen und keinerlei Rettungsaufsicht auf keinen Fall schwimmen gehen. Aber mich halten sie nicht davon ab, ein wenig in den Wellen zu planschen.

Ich ziehe mich aus, dann hüpfe ich rein.

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