Wieder eine bitterkalte Nacht. Das darf doch eigentlich nicht sein. Wir haben Hochsommer! ?
Ich fürchte nur, für 10 Grad Nachttemperatur und leicht darunter ist meine Ausrüstung gar nicht ausgelegt. Der Schlafsack hält keinerlei Kälte ab, das Zelt lässt jeden Windstoß durch und wird schnell auch innen nass, und zu allem Überfluss wird die Luma die Nacht über dünner. Dabei war ich extra mit ihr im Ammersee, um zu prüfen, wo sie Luft verliert. Nichts gefunden.
Nachts um 2 wache ich auf, fröstelnd, befreie mich aus dem Schlafsack, puste noch was Luft in die Luma, ziehe zwei Pullover und lange Hosen übereinander an und versuche es so nochmal. Warm ist es nicht, aber so geht es gerade.
Um 7 klingelt der Wecker, aber es ist noch dunkelgrau auf dem Zeltplatz. Hey, so läuft der Deal nicht! Wenn schon kalte Nacht, dann morgens wenigstens Sonnenstrahlen bitte! Ich warte noch eine Viertelstunde, bis die dann endlich um die Ecke kommen, lasse mich kurz aufwärmen, dann stehe ich auf, mit gemischten Gefühlen.
Denn gestern war schon hart, aber heute kommt sie, die eigentliche Königsetappe. 118 km bergauf und bergab, noch länger, noch hügeliger, noch stärkere Gefälle. 😉
Aber gut, nit lamentieren. Stier bei den Hörnern packen! Ich bestelle mir einen Kaffee an der Rezeption, lasse mein Zelt und meine noch nicht ganz getrocknete Wäsche noch ein wenig in der Sonne baden. Um 0915 geht es los.
Ich plane, extrem sparsam zu fahren heute, den Akku nur einzuschalten, wenn es gar nicht mehr anders geht. Der Vorsatz hält genau bis zum ersten Hügel, den ich ohne Motor nicht hinauf schaffe. Ächz!
Aber kaum habe ich die bayerische „Staatsgrenze“ Richtung Vogtland verlassen, wird die Gegend noch einmal richtig hübsch. Weite Felder, kleine Bäche, Talsperren, hügelige Landschaft. Teils urige Altbauten aus (Vor-)DDR-Zeiten, teils moderne Neubauten.
Besonders gut gefällt mir dann das Erzgebirge. Alter Bergbauern-Charme:
Oder die charmanten Ortsnamen:
Nur die Strecke ist wie erwartet Hardcore. Sehr viel Steigung anfangs, und weil ich nicht genau ausrechnen kann, was da noch kommt, fahre ich die erste Hälfte der Strecke ohne Akku, wo es nur geht. Es gibt in der Tat viele Steigungen. Ähnlich wie gestern, nur heute insgesamt noch mehr Weg. Kaum eine Abfahrt genossen, schon geht’s wieder rauf. Dazu oft eine schlechte Wegstrecke und Gegenwind.
Zum Schluss immerhin habe ich genug Akku übrig, um den Rest entspannt angehen zu lassen. Ein top ausgebauter Fahrradweg, auf dem es zudem noch bergab geht, ist mit vergönnt. Ich kann die letzten 15 km immerhin völlig ausrollen lassen. Aber ich bin auch froh, mein persönliches Alpes d’Huez jetzt hinter mir zu haben.
Versöhnt werde ich mit dem Besuch bei Holger und Kerstin in ihrem kleinen „Freistaat“, einer Insel in Mitten einer alten Bergarbeiter-Siedlung von Chemnitz.
Ich habe Holger vor zwei Jahren bei meiner Radreise durch die Schweiz kennengelernt. Wir hatten wegen des angekündigten Regens beide eine Pension in Hospental genommen und abends etwas zu essen bestellt. Es war mitten im ersten Corona-Sommer, noch vor den ersten Impfungen, und das Essen sollte drinnen serviert werden. Ich tat etwas, was ich selten tue: Ich machte Aufhebens und bat, das Essen draußen auf der Terrasse essen zu dürfen. Ich hätte zu viel Angst vor den Aerosolen, die Covid übertragen könnten. Die Herbergsmutter sah verblüfft aus, aber ließ mich meinen Teller mit nach draußen nehmen, obwohl es dort langsam anfing zu nieseln. Draußen traf ich Holger, der sich nach seiner Etappe gerade ein Bier aufgemacht hatte. Wir verstanden uns auf Anhieb.
Später blieben wir in Kontakt und schrieben uns immer wieder, wenn einer von beiden gerade unterwegs war. Am nächsten Morgen übrigens hatte mir die Herbergsmutter für das Frühstück einen Platz direkt an der geöffneten Eingangstür gedeckt. ? Holger kam dazu und wir tauschten uns über unsere noch geplanten Etappen aus.
Meine Freude war also groß, als ich Holger nun endlich wiedersah und seine Frau Kerstin kennenlernte. Beide haben über die Jahre ein eigenes Fotostudio in Chemnitz aufgebaut. Das tolle Haus und den gemütlichen Garten haben sie sich selbst angelegt und ausgebaut. Neueste Errungenschaft ist ein Pool, derzeit arbeitet Holger daran, eine Gartenhütte zur Sauna umzufunktionieren. Es wirkt in der Tat fast wie ein eigener Freistaat.
Ich werde im Gästezimmer einquartiert, kann mich etwas frisch machen, bevor ich zum Abendessen eingeladen bin. Es gibt einen herrlichen, vegetarischen Currytopf. Beide essen kaum noch Fleisch, sagen sie.
Beim anschließenden Lagerfeuer kommen wir auf Ihre Geschichte zu sprechen. Kerstin und Holger sind beide in Chemnitz aufgewachsen und haben sich noch zu DDR-Zeiten in der Schule kennengelernt. Während Kerstin sich schon früh für die Fotografie begeistert hatte, war Holger in seiner Jugend am Ort ein halber Rockstar, der in zahreichen Bands aktiv war. Nach der Wende, 1992, nahm seine damalige Band Blaue Engel tatsächlich am Vorentscheid für den Eurovision 1992 teil – und wurde Zweiter. Danach zerstritt sich die Band und die Karriere als Popsternchen zerschlug sich. Holger sattelte zusammen mit Kerstin auf die Fotografie um, und daran arbeiten beide bis heute zusammen.
Noch vor Wende-Zeiten hatten sie etwas, was man heute wohl eine On-Off-Beziehung nennen würde, bevor dann irgendwann das erste Kind kam und sie dann ein paar Jahre später geheiratet haben. Als ich darüber staune, lachen sie. Die Sexualmoral in der DDR sei damals liberaler gewesen als in der kirchlich geprägten BRD. Klar hatte man davon schon gehört, aber Kinderkriegen vor der Ehe und On-Off-Beziehungen waren selbst für die damalige Zeit schon geradezu modern.
Mir fallen die Augen zu. Noch dazu, dass die letzten beiden Etappen echt anstrengend waren und die Nächte kurz und eisigkalt, scheine ich kein Bier mehr zu vertragen. Im Sinne von: ich bekomme dann starke Heuschnupfen-Symptome, mir schwillt die Nase zu und die Augen jucken wie verrückt. Nicht gut. Oder?
Immerhin bin ich froh, in Kerstin und Holgers Gästezimmer unterzukommen und dann nach den beiden kalten Nächten mal wieder in einem richtigen Bett schlafen zu können. Morgen geht es dann weiter nach Leipzig. Was schade ist, denn ich wäre wieder einmal gerne noch länger geblieben.
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Das Morgentau-Lied
Text: Jürgen Vielmeier (insp. by Hoffmann von Fallersleben), Melodie: Joseph Haydn (t.b.d.)
Morgentau, o Morgentau, Wer hat dich bloß bestellt?
Das Fußende vom Schlafsack nass, die Zeltwand eingedellt.
Und gehst hinaus, kriegst’s Füße nass, die Beine schwer wie Lot.
Morgentau, o Morgentau, du Trübsal in der Not.
Ach, wartest du nur lang genug, dann brennt die Sonn‘ dich fort.
Doch selten so viel Zeit du hast, musst fort an‘ nächsten Ort.
Morgentau, o Morgentau, triffst jeden groß wie klein.
Ob 50-Euro-Festival-Bau ob Oppland-Kuppel-Zelt.
Morgentau, o Morgentau, bist’s Blödste auf der Welt.
Morgentau!
2 Antworten auf „Chemnitz (Etappe 10)“
Wo hast du Holger und Kerstin denn her? Hattest du die schon erwähnt und ich hab’s vergessen?
Holger und ich haben uns damals auf der Schweiz-„Rundfahrt“ kennengelernt. Zwei Radreisende, die unter einer Regen-Veranda gestrandet waren. 🙂