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Neusee(n)land (Etappe 11)

Es wird der erwartet schlappe Tag. Ich schlafe lang, dann haben mich Kerstin und Holger noch zum Frühstück bei sich eingeladen. Wir klönschnacken bis beinahe 12, dann finde ich, dass ich doch mal Richtung Leipzig losrollen sollte. Natürlich nicht, ohne mir vorher die Chemnitzer Innenstadt angeschaut zu haben:

Doch, Chemnitz ist weit hübscher als gedacht!

Die Etappe heute ist eine der einfachsten. Nur 80 km und bloß zwei nennenswerte Steigungen. Aber mein Akku scheint nach den zwei Bergetappen völlig leer.

Noch dazu kämpfe ich mit der Allergie. Meine Nase ist zu und ich fühle mich, als wäre ich von der Bergbahn überfahren worden. In einem kleinen Ort namens Lunzenau gönne ich mir ein Eis, einen Kaffee und werfe mir bei der Gelegenheit auch eine Loratadin ein. Als ich dabei zufällig mein Spiegelbild am Tresen sehe, erschrecke ich fast: Ich sehe aus, als hätte ich Drogen genommen. Liegt das wirklich an den drei Bieren gestern oder bin ich neuerdings auch gegen Ambrosia oder Beifuß allergisch?

Als es danach den Berg rauf geht, schmerzen mir die Knie und Beine…

Es wäre wohl mal Zeit für einen halben Tag Pause. Ich spekuliere auf übermorgen bei meinem Onkel im Pool. 🙂

Es ist dann 1730, als ich auf dem Zeltplatz am Markkleeberger See ankomme, etwa 10 km südlich von Leipzig. Steht da Neuseeland auf dem Schild?! Ach so, Neuseenland. Aber bestimmt fast genauso schön…

Der Platzbetreiber steht direkt draußen vor der Rezeption, als ich komme, und er flachst: „Du willst nicht dass ich mich endlich mal hinsetzen kann, hm?“ Er hat sich gerade ein Bier aufgemacht, erklärt mir kurz die Details und schließt mit den Worten: „Und dann bekomme ich von dir nen Zehner. Normal 12,50, aber…“ – guckt rüber zu seinem Bier – „gibst mir 10 Euro und es passt.“

Mit dem Rad fahre ich nach Leipzig rein, wo ich Manu treffe. Wir essen was, reden über die alten Zeiten (haben zusammen studiert), und ich bekomme sogar noch eine kleine Stadtführung. <3

Aber irgendwie triggert das was in mir. Mein ganzes, neu gewonnenes Selbstbewusstsein verpufft mit einem Mal. Dabei habe ich durchaus schon was erreicht, nicht nur hier auf der Reise, auch in meinem Leben. Fast die Hälfte der Strecke liegt hinter mir. Und auch den Aldi-Äquator habe ich überschritten. Warum mache ich mich immer so klein dabei?

Aldi-Nord-Gebiet erreicht.

Abends zurück auf dem Platz komme ich im Waschraum mit einem anderen Camper ins Gespräch. Anfangs verstehe ich nur die Hälfte, denn er sächselt stark. Später wird es etwas besser. Er erzählt mir von seinem Job in einem Flüchtlingsheim und wie ausgebrannt er sei. So sehr dass er es manchmal sogar an den Heimbewohnern auslasse, was er eigentlich nicht wolle.

Was an dem ganzen System schief laufe? Die Vernünftigen, die eigentlich wirklich Grund hätten, hier zu bleiben, weil sie wegen Hunger, Krieg oder aus politischen Gründen geflüchtet sind, könnten und würden oft schnell wieder abgeschoben. Diejenigen, die er unsanft als Drogenhändler, Vergewaltiger, Einbrecher etc. bezeichnet, dürften bleiben.

„Und wie das?“, frage ich? Wer straffällig wird, bekomme einen Prozess, sagt er, und könne in der Zeit nicht abgeschoben werden. Und solche Prozesse könnten sich ziehen. Wer dann in der Zeit noch einmal straffällig wird, bekommt noch ein Verfahren und nutzt das aus. Ein klarer Fehler im System, und diese Ungerechtigkeit halte er nicht mehr aus. Zumal diejenigen ihre Rechte genau kennen würden.

Neulich hätte sein alter Chef bei ihm geklingelt. Einfach so, wäre gerade in der Gegend gewesen, wollte mal hören, wie es ihm so gehe und ob er nicht zurückkommen wolle in den Handwerker-Job. So kommt der Fachkräftemangel auch ihm zu Gute, auch wenn sich am System dadurch natürlich nichts ändern wird.

Mit etwas Glück wird die Nacht heute nicht so kalt, ziemlich sicher aber laut. Direkt hinter meinem Zelt gehen eine Straße und eine Buslinie lang, um die Ecke noch eine, man hört die Autobahn in ca. 500m Entfernung und, ach ja, Einflugschneise scheint auch noch zu sein. Meine mitgebrachten Ohrstöpsel werden Premiere feiern. Ich murmele mich ein und träume von Neusee(n)land.

Notizen

Leipzig hat richtig schöne Ecken:

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