Hab ich das alles nur geträumt, oder ist das wirklich passiert?
An einem Montagabend fahre ich in einem gar nicht mal so tollen Zustand los. Wahrscheinlich ist ein Urlaub längst überfällig gewesen. „Wohin“, fragt mein Nachbar, der mich zufällig vor meinem Haus mit Sack und Pack mit der Navi-App auf dem Handy stehen sieht, als ich gerade losfahren will. „Nach Westen“, sage ich, „Bis die Leute irgendwann anfangen Englisch zu sprechen.“
30 Kilometer später fällt mir auf, dass ich an alles gedacht habe: Offline-Navi, Ladekabel, Reisepass für England, Magnesium, Regenzeug – nur mein Portemonnaie liegt noch da, wo es immer liegt. Rufe Nicky in Portugal an, die immer spontan eine Lösung weiß – wenn es eine gibt. Vielleicht irgendwie die Kreditkarte noch auf Apple Pay einlernen und dann alles mit dem Handy bezahlen? „Und deine Versichertenkarte? Das klappt alles nicht“. Sie hat recht. Ich fluche und fahre zurück. Neustart am nächsten Tag.
Kurz vor Maastricht auf einen Bauernhof mit Campingplatz. Keine Lust mit irgendwem zu reden – außer mit der Bäuerin auf Niederländisch, die gleichzeitig ihr Deutsch verbessern will. Kilometerlang bei Gegenwind am Kanal weiter nach Antwerpen, wo mich das Navi plötzlich eine Rolltreppe runter in eine Art Elbtunnel schickt. Meine wundervollen Nebencamper aus England bitten liebst um mein Ladegerät – und bedanken sich später schriftlich dafür mit einer stattlichen Google-Translate-Übersetzung auf einer benutzen Serviette. Ein paar Bier vor der Liebfrauenkirche in Antwerpen, Broodjes und danach mitten in der Nacht die besten Fritten meines Lebens.
Ein Radfahrer, der minutenlang hinter mir klebt, als ich ihn überhole (spooky), Outdoor-Dusche in Brügge, ein französischer Motorradfahrer aus Bourges, ein Campingplatzbetreiber, der hier Ferien vom Lehrerberuf macht, kurzer Ausflug in die Innenstadt. Brügge jetzt zu oft gesehen, könnte bedenkenlos sterben. Stärkung an einem Automaten unterwegs, netter Plausch mit anderen Radfahrern auf der Bank davor. Mein Niederländisch wird langsam alltagsfähig! Mein erstes Nachmittagsbier kurz vor der Grenze in De Panne, weil die Belgier das auch (alle) so machen.
Bei sengender Hitze durch Dünkirchen, bis zum Ferry Port Dünkirchen in Loon-Plage sind es noch einmal fast 20 km auf einer grausigen Strecke. Hier wohnen wirklich Flüchtlinge im Busch, einen direkten Radweg gibt es nicht, Komoot und Google Maps versagen komplett. Komme völlig durchgeschwitzt bei der Passkontrolle an. „Cheers Mate“, sagt dann aber einfach nur der britische Grenzbeamte. Überfahrt an Deck, ich bin der einzige Radfahrer und komme als erster von Bord, weiß dann nicht wohin. Der roten Linie folgen, sagt ein Zuweiser, aber die ist unterbrochen.
Die Cliffs of Dover hinauf muss ich mein Rad Treppen hoch schieben. Niemand hilft, Ausblick dennoch magisch, haste zum Camingplatz, der bald zumacht (aber ich hatte vorher angerufen), werde aufgenommen, stehe völlig perplex vor der größten Campingwiese mit Meerblick aller Zeiten, lerne Claudio und Tobias aus Deutschland kennen, geselle mich dazu, trinke mit beiden später ein Bier im Pub, bekomme ein Lob, weil ich darauf bestehe, auch ein paar Worte mit den Locals zu wechseln.
Tobias lädt mich zum Frühstück aus dem Campingkocher ein, verabreden uns in Canterbury auf dem nächsten Zeltplatz. Komme auf dem Weg dahin in Deal und Sandwich vorbei und mit einer anderen Radfahrerin ins Gespräch, sie lädt mich zu einem Konzert ein. Ich weiß leider, dass ich es dazu nicht schaffen kann, aber frage nach ihrer Nummer, bekomme sie und melde mich am nächsten Tag. Treffen uns zum Dinner in Margate, habe einen kleinen Urlaubsflirt mit Abschiedskuss. 🙂 Trauen wir uns, diese Treppe ins Wasser hinunterzuklettern? „Only one way to find out“, sage ich. Stehe mit nasser Hose, sie mit nassem Kleid im Wasser, nehme ihre Hand. Dieses Hochhaus ziehe sie irgendwie magisch an, sagt sie. „Komm, da gehen wir hin“. Klingeln bei einem zufälligen Bewohner, die Mailbox springt an, sprechen die Botschaft darauf, dass er der beste Mensch ist, den die Welt je gesehen habe und dass wir ihn dafür lieben, wer er ist.
In Canterbury mit Tobias in einem Local Pub. Sehen den englischen Originalen beim Flirten zu. Ich spreche meine Thekennachbarin an, nur um ihren Akzent zu hören. Sie sagt, sie sei 20 und ihr Freund wäre heute nicht da. Das wäre okay, sage ich und dem Transvestiten, der neben ihr steht. Sie sollten nach Deutschland kommen, das würde ihnen gefallen. Frage die sehr hübsche Dame hinter der Theke, warum sie Kellnerin geworden sei. „I’m not a waitress“, sagt sie spielend entrüstet“, „I’m a bartender“. „Is there a huge difference“, frage ich. Die Antwort verstehe ich nicht, weil ich Engländer nur schlecht verstehe. Aber irgendwie muss sie auf ihren Studienplatz warten oder so etwas. Ein unfassbar gut gelaunter Südafrikaner stellt sich neben uns an die Theke, will uns kennenlernen. Er kommt mir schwul vor aber, aber es scheint gar kein Flirtversuch zu sein. Er will uns ein Bier ausgeben, tut das, dann will er sich verabschieben. „Are you real“, frage ich ihn. Er lacht sich scheckig, als ich das frage.
In Dover schiebe ich suchend mein Fahrrad durch die fast verwaiste Innenstadt. Eine alte Lady sieht das und kommt auf mich zu. „Do you need help, dear?“. Na ja, ich suche einen Ort, an dem ich etwas essen und trinken kann. Sie hält die nächstbesten Typen auf der Straße an und fragt, ob sie von hier kämen. „I’m about as far from Dover as you can imagine, love“, sagt der eine. Sie hält eine Frau mit pinken Haaren an, die sie flüchtig zu kennen scheint. Beide beraten kurz, denken über das eine Pub nach, raten mir dann eher zum anderen, schicken mich schließlich in die Biker-Kneipe, in der ich auch lande. Mit meinem Fahrrad hätte ich da eher das kleinste Bike, aber das wäre ja kein Problem, oder? Am Schluss frage ich die Frau noch, ob sie nicht selber auch aus Dover komme. „Darling, I’ve been living here 81 years, and to be honest: it is a shitty place.“ – „Then why d’you never leave?“ Da lacht sie nur und winkt ab.
Vor der Kneipe sitzt ein Mann, den ich auf den ersten Blick für obdachlos halte. Als ich wieder rauskomme, frage ich ihn, ob ihm ein Bier oder was zu essen ausgeben könne (in der Kneipe nicht teuer). Er bedankt sich: nein danke, er habe genug von allem auf. Aber ob ich mich nicht setzen wolle. Will ich dann kurz. Er hat ein so gepflegtes Äußeres, gibt mir Reisetipps, wir sprechen über die Wirtschaft, Englands Geschichte – dass ich kurz überlege, ob mich mein erster Eindruck nicht getäuscht haben könnte. Als er sich verabschiedet, frage ich ihn noch, wo er heute unterkäme. Würde sich schon was finden, sagt er.
Auf der Rückfahrt sind wir diesmal deutlich mehr Radfahrer auf der Fähre. Weil eine Engländerin und ich zu lange brauchen, unsere Taschen wieder aufzusatteln, müssen wir warten, bis alle anderen Motorräder, LKWs, und Autos von Bord sind. Leicht genervt erreichen wir das Tor zur EU – das sich nicht öffnet. Wir winken einer Gruppe von Grenzbeamten dahinter zu. Es tut sich minutenlang nichts. Dann endlich kommt ein Auto und das Tor öffnet sich. Wir fragen die französischen Grenzbeamten dahinter, was da los war. Es stellt sich raus, dass sich das Tor nur nach Gewicht öffnet, und wir zwei Radfahrer dafür zu leicht sind. Da kommste nicht in die EU, weil du kein Auto fährst. Ich finde das höchstamüsant, aber die Engländerin will sich lieber beschweren. Das kommt nicht gut an. „If you don’t elike it“, antwortet ein französischer Grenzbeamte, „you can drive in your country, non?“
Übernachtung nahe Oostende auf einem Campingplatz am Strand. Wunderbare Lichtstimmung zum Sonnenuntergang am Meer. Abends klaut man mir meine Powerbank und mein Ladegerät im Waschraum. Kurz hinter Brügge steuere ich am nächsten Tag ein Einkaufszentrum an, um mir beides neu zu kaufen. Kurz davor sehe ich einen älteren Radfahrer mit blutendem Bein am Boden liegen, eine Frau daneben mit ihm im Zwist. Sie spricht nur Flämisch, er nur Französisch. Sie war auf der Gegenfahrbahn, aber er hatte sie nicht gesehen, sie beteuert ihre Unschuld. Ich operiere mein Mini-Verbandsset aus meiner Tasche heraus. Als ich fertig bin, hat sich der Alte schon fluchend verabschiedet. Bekomme die letzte Powerbank in einem Fachgeschäft für Waschmaschinen. Die seien grundsätzlich leider nicht vorgeladen, sagt der Verkäufer. Ist sie dann aber doch.
Besuch bei Sven und Sarah in Dendermonde. Ich bin zum Abendessen eingeladen, und Sven gibt mir eine Stadtführung (<3). Seine Tochter zeigt mir, wie man einen Zauberwürfel löst (bestelle mir noch unterwegs einen) und spielt mir „Despacito“ auf ihrer Ukulele vor. Ich revanchiere mit mich „Kiss me“ von Sixpence None the Richer.
Noch mehr Fritten unterwegs, auf dem vorletzten Camingplatz treffe ich Ruben, 25, einen Klempner aus Brüssel. Er sei froh über seine Arbeit, sagt er, habe seit kurzem eine Freundin und baue sich gerade ein Haus. „Was? Mit 25 schon?“, frage ich. Ja, sagt er, teuer sei das immer, also warum nicht gleich jetzt eins bauen? Bis er mit seiner Freundin zusammengekommen war, seien drei Jahre vergangen, seit er. Das Haus baue er aber nicht für sie.
Regen, Hitze, der höchste Punkt der Niederlande, der gleich neben dem Dreiländerpunkt liegt, noch ein paar tolle Smalltalks unterwegs mit Radfahrern mit Rückenproblemen, einer Bikepackerin aus Amsterdam und einem Eisdielenbesitzer in Düren, der mir immer freundschaftlich auf die Schulter klopft. Und dann, plötzlich, bin ich wieder in Bonn.
Und, klar, man hätte auch zu Hause eine schöne Zeit haben können. Dann hätte ich meine alte Powerbank jetzt immer noch. 😉
5 Antworten auf „Urlaub woanders“
Grandioser Reisebericht!
Sehr interessant, zu lesen, wie du deinen Urlaub so verbringst. Hatte mich schon gewundert, erst Belgien und dann England auf Instagram zu sehen. Aber mit dem Fahrrad schafft man doch so einiges an Kilometern. Die Erfahrungen mit äußerst freundlichen und kommunikativen Engländern, Wallisern und Schotten haben wir eigentlich auch in jedem Urlaub gemacht. Scheint sich auf jeden Fall gelohnt zu haben, liest sich wie mehrere Urlaube in einem.
Danke euch! 🙂
Ein grandioser Reisebericht. Einmal mehr bin ich ein wenig neidisch ob Deines Urlaubs und den zich tollen Begegnungen und Eindrücken die Du gesammelt hast😃.
Danke Jens. Aber du lernst ja auf deinen Reisen auch sicher viele tolle Leute kennen.