Du kennst vielleicht auch einige Bücher, Filme, Theaterstücke oder Serien, in denen die Handelnden die vierte Wand durchbrechen. Sie wenden sich dann direkt an das Publikum. Shakespeare etwa hat das in einigen Stücken gemacht. Bekannt geworden sind auch die Momente in der Serie „House of Cards“, in der der Protagonist dem Zuschauer sein Handeln erklärt. Gleich in der allerersten Szene beginnt dieses Spiel, das sich bis zum Ende seines Auftretens in mehreren Staffeln immer wiederholt:
Mel Brooks geht in seiner Star-Wars-Satire „Spaceballs“ noch ein paar Schritte weiter. Er spielt immer wieder mit der Tatsache, dass das Ganze ein Film ist. Etwa wenn der Antagonist direkt in die Kamera fragt: „Haben das alle verstanden?“, die Sturmtruppen glauben, die Rebellen nach einer wilden Verfolgungsjagd in der Falle zu haben, dabei haben sie nur deren Stunt-Doubles erwischt. Oder wo der 1. Offizier die Idee hat, man könne doch einfach ein Instant-Video des Films, den man gerade dreht, einlegen und vorspulen, um so in Erfahrung zu bringen, was die Gegenseite als nächstes tut:
Metafiktion nennt sich das. Das Auflösen zwischen Realität und Fiktion. Und genau das treibt Autor Italo Calvino in seinem Roman „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ auf die Spitze. Schon auf der ersten Seite wendet sich Calvino an Leserin und Leser und begrüßt sie im Buch. Es dauert nicht lange, da wird der Leser zum Handelnden, quasi zur Hauptfigur. Die Leserin folgt im im letzten Drittel des Buchs.
Ab Seite 30 ufert der Plot dann völlig aus. Plötzlich spielt Calvino mit der Idee, dass sich Seiten eines anderen Buchs in das seine verloren haben. Du als Leser gehst dem Ganzen auf den Grund und landest in der Druckerei, sprichst mit dem Verleger, stellst dabei fest, dass selbst die vertauschten Seiten gar nicht echt sind und die Wahrheit vielleicht in völlig anderen Büchern liegen – aus denen nach und nach Kapitel um Kapitel im Buch auftauchen. Nebenbei verliebst du dich in eine mysteriöse Büchernärrin, findest dich plötzlich auf der Flucht wieder und stellst fest, dass der Übersetzer des Buchs in all dem seine Finger haben könnte.
Was für ein Wahnwitz! Calvino persifliert dabei ganz nebenbei zahlreiche Literaturstile, vom südamerikanischen Historienepos über einen japanischen Erotikzyklus bis hin zum französischen Groschenroman. Vor allem der Auszug aus letztem ist so herrlich übertrieben, dass ich mich beinahe weggeschmissen habe. Alles in allem eine bunte Reise durch die moderne Literatur wohl mit der Aussage, dass jedes Buch auf seine Weise einzigartig ist, jeder jede Geschichte anders wahrnimmt, aber kein Autor dieser Welt etwas wäre ohne seine Leser.
Toll!
Und wo ich oben eh schon bei Filmen war: Erinnert hat mich das irgendwie an „Everything Everywhere All At Once“. Wahrscheinlich wegen der vielen Sprünge, dem Genremix, den vielen Subplots und der wahnwitzigen Handlung. Falls ihr den Film gesehen habt: So ungefähr könnt ihr euch Calvinos Buch vorstellen. Es sollte mehr von sowas geben.
„Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ wurde aber anscheinend noch nicht verfilmt. Dürfte auch schwer werden, aber würde sich lohnen.
Die ersten drei Titel auf meiner Bücherliste habe ich damit gelesen. Jetzt bin ich sehr auf eins der nächsten gespannt. Vielleicht wird’s „Rayuela“, ein Buch, dessen Kapitel man in beliebiger Reihenfolge lesen können soll.