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.64: Ilanz, nass aber glücklich.

Die Frage, ob ich in der Pension auch essen wolle, bejahe ich spontan, ohne groß darüber nachzudenken. Möglichst früh, um andere Gäste zu umgehen, begebe ich mich in den kleinen Speisesaal. Die Luft steht, nur ein Fenster ist auf kipp. Im Saal sind das Gastgeberehepaar (okay, mit denen beiden hatte ich schon Kontakt) und noch ein Dude aus dem Dorf. Ich bestelle und ein weiterer Gast kommt rein, direkt nach ihm eine vierköpfige Familie.

Und ich werde immer unruhiger auf meinem Stuhl. Hier in der Schweiz gilt in einigen Kantonen nur das Abstandsgebot, drinnen wie draußen. Motto: Halte 1,50 Abstand zu anderen Gästen, desinfizier das meiste, lass nicht zu viele Leute gleichzeitig in den Shop, dann ist alles gut. Ich gehe immer mit Maske rein und werde manchmal nett darauf hingewiesen, dass ich das nicht müsse. Worauf ich dann entgegne, dass ich aber möchte, und mich immer, wo möglich, draußen zum Essen hinsetze. In Luzern vor einer Woche waren Innenräume noch komplett gesperrt, hier in Uri und Graubünden herrscht abends (Aerosol)Party in Kneipen und Restaurants.

Mir wird das hier zu heiß. Ich frage direkt in den Raum, ob ich auch draußen auf der Gästeterrasse essen könne. Eigentlich nicht, entgegnet die Besitzerin. Sie sei nicht mehr so gut zu Fuß. Also schlage ich vor, das Essen selber rauszutragen. Das geht in Ordnung, aber ich habe das Gefühl, dass die Stimmung im Saal danach gedämpft ist. Dieser komische Deutsche mit seinem Corona-Spleen…

Auf der Gästeterrasse treffe ich Holger, ein ebenfalls Radreisender aus Chemnitz und ein sehr netter Kerl. Wir unterhalten uns für gut eine Stunde in bitterer Kälte, aber genießen die frische Luft und ein wenig Gesellschaft. Er ist Fotograf und war früher Mitglied der Band „Die blauen Engel“, die 1992 im deutschen Vorentscheid zum Eurovision knapp gegen Ralph Siegels Vorschlag „Wind“ gescheitert sind. Holger zeigt mir das Video auf YouTube. Er ist der Typ in der Mitte mit rotem Jackett und weißer Hose.

Am nächsten Morgen beim Frühstück bekomme ich den Platz direkt an der offenen Eingangstür zugewiesen. Auch das Fenster hinter mir ist offen. ? Als Holger runter kommt, fragt er, ob er sich, auf Abstand, dazu setzen darf. Als ich bejahe, guckt die Besitzerin ziemlich irritiert. Dieser verrückte Deutsche…

Es steht fest, dass es die nächsten zwei Tage regnen wird. Was tun? Ich stehe um 0630 auf und schaue in die Wetter-App. Der Morgen sieht noch ganz gut aus, Disentis ist laut Google Maps zwei Stunden entfernt. Ich beschließe, es zu versuchen. Meine Regenklamotten müssen auch mal ausprobiert werden.

In Andermatt beginnt der Rheinradwanderweg, die Eurovelo 15 – und schickt den Reisenden gleich als allererstes den Oberalppass hinauf. 600 Höhenmeter auf 10 Kilometern, wie um gleich ganz klar zu machen: Du bist hier in der Schweiz, Junge! Kindergeburtstag kannst du in Deutschland feiern.

Nach gestern haut mich der Aufstieg nicht mehr um, zumal ich mir diesmal beinahe durchgehend Stufe 2/4 gönne, er ist aber doch länger als gedacht. Unterwegs werden die Tropfen auch langsam zu Regen. Da macht der Tag heute keinen Bogen herum.

Oben am Oberalppass ist der offizielle Startpunkt des Rheins. Ein Leuchtturm steht Pate. Sein eigentlicher Ursprung ist etwas weiter unten am Tomasee. Den Abstecher erspare ich mir aber aufgrund von Kälte und Regen.

Als es abschließend kilometerweit bergab geht, wird mir direkt etwas kalt und mir fällt noch etwas ein, was ich hätte mitbringen können: Handschuhe. Vielleicht wäre es auch klüger gewesen, das verschwitzte Hemd noch vor der Abfahrt zu wechseln. Das erledige ich leider erst am Bahnhof Disentis. Der Milchkaffee, den ich dort an der Raststätte trinke, und den ich zum Erstaunen des Baristas draußen zu mir nehmen will, wärmt wie ein Kachelofen. Danach bin ich wie neu und beschließe noch weiter bis Ilanz zu fahren. Chur wäre zu weit und mit 1.000 weiteren Höhenmetern vor allem zu hoch.

Auf dem Weg steht plötzlich eine Absperrung, die etwas von einer Schlammlawine erzählt. Man solle sonstwohin fahren und dort einen Umweg nehmen. Aber was ein echter Aventurer ist, der fährt natürlich trotzdem weiter. (Ich war auch nicht der erste oder sehe es als Verbot an. Die Absperrung ist gut umfahrbar.

Was ein echter Aventurer ist, der macht auch nicht Halt vor einem offensichtlichen Matschhaufen mit dahinter rauschenden Gebirgsbach, der ridert da easy durch. Einfach die sicherste Stelle ausgucken und das Rad drüberschieben.

Was ein echter Aventurer ist, der gibt auch nicht auf, wenn der Reifen im Schlamm einsackt. Oha, doch deutlich weicher der Boden, als ich dachte. Egal, schnell weiter, auch wenn mittlerweile das halbe Vorderrad feststeckt, das hintere auch, und ich selbst bis zu den Knieen. Und der Motor und die Naben drohen darin zu versinken. Ohauaha!

Ich habe das 35-Kilopaket mitten in den Morast navigiert, und ich selber stecke auch fest. Ich ziehe und drücke, schiebe und hieve, es bewegt sich nichts, sorgt nur dafür dass ich immer weiter einsacke. Wie so oft mal wieder die Frage: was jetzt? Die Bergwacht rufen, damit sie einem Ebike das Leben retten? Ihnen dann erklären, dass ich das Warnschild einfach in den Wind geschlagen habe? Warten, bis einer zur Hilfe kommt, auf einer abgesperrten Straße? Ich habe keine Wahl, ich muss mich (im wahrsten Sinne des Wortes) aus meinem eigenen Schlamassel befreien.

Aber wie? Zunächst versuche ich, das 35-Kilopaket auf 20 Kilo zu erleichtern. Ich nehme die Taschen ab und werfe sie auf den Geröllhaufen 1 Meter hinter mir. Meine völlig verschlammten Schuhe und Socken ziehe ich aus, damit sie mich nicht noch tiefer reinziehen. Wie ich aussehe, ist mir mittlerweile längst egal. Und dann ziehe und ziehe ich. Zunächst das Vorderrad. Es kommt ein Stück raus. Der Hinterrad – versinkt noch tiefer dabei.

Ich fluche und kreische und irgendwann singe und lache ich. Ich stelle mir vor, wie ich mir selbst dabei zusehe, voller Schlamm und völlig verzweifelt. Ich brülle mit Motivationen zu, als wäre ich mein eigener Fitnesstrainer. Ich versuche es noch einmal. Erst das Hinterrad, das ich gleichzeitig vom Schlick befreie. Beim fünften Versuch kommt es ein Stück weit heraus. Jetzt das Vorderrad. Ich ziehe und ziehe, bis es endlich nachgibt.

Wie genau, weiß ich nicht mehr, aber nach einer guten halben Stunde im Morast sind Rad und Fahrer endlich da raus:

Just in diesem Moment kommt natürlich doch noch jemand vorbei. Es ist das Pärchenein, das ich ein paar Kilometer vorher überholt habe. Ich zeige auf mich als warnendes Beispiel und rate beiden zur Umkehr. Die Frau steigt ab und schlägt vor, über die andere Seite am Morast vorbeizugehen. Das könnte in der Tat gelingen… Verschlammt wie ich eh schon bin, schlage ich vor, den Weg auszuloten. Es klappt (erschreckend) problemlos. Gemeinsam schieben wir drüber. Ich muss meine Sachen noch nachholen. Netterweise warten die beiden solange, bis ich alles sicher rübergeschafft habe.

Die nächste Stunde verbringe ich damit, mir mit der Trinkflasche Wasser aus dem keinesfalls klaren Gebirgsbach zu holen und die Schlacke damit abzuspülen. Die Sache ist vertrackt. Ein Gemisch aus feinem Sand und kleinen Kieselsteinen steckt auf der ganzen Unterseite des Fahrrads. Auch der Antribesriemen ist verschlammt, treten lässt sich nicht mehr und das Rad kaum noch bewegen. Und sollte das Zeug in die Kugellager oder den Motor gekommen sein, dann ist eh Feierabend.

Wohl 20x renne ich an den Bach und hole neues Wasser. Es geht. Es spült den größten Mist weg. Aber wie kriege ich das Gemisch aus den Zacken des Riemens? Diesmal überlege ich vorher, bevor ich zur Zahnbürste greife. ? Ich hole mein Schraubenset und schiebe die Steine, Nut für Nut, aus dem Riemen heraus, bevor ich mit Wasser nachspüle. So geht es schließlich. Ich mache eine Probefahrt. Nichts knirscht mehr, das Ding bewegt sich. Yee-hah!

Und der Motor? Lässt sich einschalten. Habe ich ein Glück gehabt! Alles geht noch, Motor, Schaltung, Naben, Bremsen. Auch die Räder sind nicht verzogen. Ich fahre erleichtert weiter – um 100 Meter weiter vor dem nächsten Schlammloch zu stehen. !@##$^&

Aber diesmal habe ich Glück. Ein Typ kommt mir entgegen, der das Hindernis gerade gemeistert hat und mir erklärt, wie ich es auch nehme. Ich warne ihn meinerseits vor dem anderen. Und er hat Recht. Ich schiebe sicher am Rande drüber und bin im null komma nichts auf der anderen Seite.

Wenige Kilometer später komme ich an einer Tränke mit klarem Wasser vorbei. Ich nehme wieder meine Trinkflasche und gieße das Wasser großzügig über Rad, Taschen und mich selbst. Am Ende sind wir alle sauberer als vorher… Was aber nicht lange anhält, denn die nächsten, letzten 20 Kilometer über Stock und Stein sind schlammig. Am Ende sind wir fast genauso verdreckt wie vorher.

So lässt mich keiner in sein Hotel, das ist klar. Im Regen am Dorfbrunnen von Ilanz spüle ich deswegen Rad, Taschen und mich selbst noch einmal großzügig sauber. Niemand nimmt davon Notiz. Das mag ich an der Schweiz. Es ist eine Nation von Outdoorsportlern, wo jeder weiß, dass Dreck anfällt. Aber in der Armee gelernt und mich heute auf einmam wieder daran erinnert: Egal ob du vorher im Schlamm gerobbt bist, sieh immer präsentabel aus, wenn du danach vor den Offizier trittst.

Und so bekomme ich, präsentabel aber patschnass, das letzte freie Einzelzimmer im Gästehaus für 58 Franken. Tropfend bringe ich alles nach oben um dann festzustellen, dass meine rote Tasche nicht dicht gehalten hat. (War ich das mit meinen zahlreichen Abspülaktionen?) Alles in der Tasche ist nass. Ich muss es aufhängen. Was bin ich froh, dass mein Zimmer geräumig ist und sich irgendwie für alles Platz findet.

Auf dem Weg hinauf sehe ich, dass das Gästehaus eine Waschmaschine hat. Ich überlege nicht lange und beschließe, mein versandetes Zeug schlicht dorthin outzusourcen.

Ich könnte mich ärgern über meine zahlreichen Dummheiten, aber erstaunlicherweise tue ich das Gegenteil. Ich lache, ich bin glücklich, ich freue mich wie ein kleines Kind. Und ich kann es mir nicht genau erklären.

Es ist nur immer wieder so, dass plötzlich coole Sachen passieren, wenn du dich drauf einlässt. Du steckst im Schlamm, du lernst dich selbst da raus zu ziehen. Du willst aufgeben und zurückfahren, dann kommt einer und ihr schafft gemeinsam den Weg. Du bekommst durchnässt an einem völlig verregneten Tag das letzte Zimmer, und es ist toll. Du entdeckst per Zufall die Waschmaschine, als du beim Münzeinwurf feststellst, dass du nicht das richtige Kleingeld hast, kommt im selben Moment die Rezeptionistin vorbei und kann dir wechseln. Deine Sachen sind nass, aber am Abend geht sogar, mitten im Hochsommer, die Heizung an. Morgen wird alles wieder trocken sein.

🙂

Ilanz – hübsch, aber man ist auch schnell damit durch.

4 Antworten auf „.64: Ilanz, nass aber glücklich.“

DAS sind die Sachen an die man sich erinnert und den Enkeln (von wem auch immer…) stolz erzählen kann:
Damals im Krieg äh Schlamm mitten in den Alpen…
Könnte doch auch noch mit Indiana Jones verfilmt werden, oder ?!?

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