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Aus Langeweile mit Menschen reden

Ich war heute den halben Tag in und auf dem Weg nach Wiesbaden, um ein Konzert von Agnes Obel zu sehen. Ich wollte ursprünglich mit Juan dorthin, aber der hat sich noch rechtzeitig vorher die Seuche geholt (Corona) und ein gleichwertiger Ersatz ließ sich kurzzeitig nicht auftreiben. Also erstmal niemanden zum Reden.

Ich arbeitete unterwegs, wurde mit meinem Testbericht fast fertig, organisierte noch einiges und war dann mit allem, auch dem Abendessen in einer Dönerbude, um 1900 fertig. Die Veranstaltungslocation, die Wiesbadener Ringkirche, war gleich nebenan. Ich ging hin und saß noch ein wenig in der Sonne, zückte mein Handy, schaute nach dringender Arbeit, es gab keine. Einlass sollte um 19:30 Uhr sein, der Pulk wartete davor, ich auch. Tatsächlicher Einlass: 19:50 Uhr.

Ich bekam einen guten Platz, saß und wartete. Dann wartete ich weiter. Es war ja eine katholische Kirche, ich hatte zwar keine Skrupel, meine Mütze aufgesetzt zu lassen (schlimmer Frevel, aber f* the system!), aber ein wenig innere Einkehr könnte ja nicht schaden. Ich saß, schloss die Augen, atmete tief ein und aus. Als ich damit fertig war, war es etwa 20:15 Uhr. Noch immer suchten sich Leute einen Platz, vom Künstlerensemble keine Spur. Ich checkte mein Handy, schrieb Freunden ein paar Nachrichten, graste meine E-Mails und Feeds ab (beide leer), hatte nichts mehr zu tun.

Langeweile ist ein Geschenk. Es macht dich kreativ. Ich kann mich auch tatsächlich nicht daran erinnern, wann mir zum letzten Mal langweilig war. Es gibt in meinem Leben eigentlich immer was zu tun. Es geht mir besser, wenn immer etwas zu tun ist. Jetzt war nichts mehr zu tun…

Es wurde 20:20 Uhr und dann 20:25 Uhr und noch immer keine Künstler auf der Bühne. Ich checkte ein paar Apps auf meinem Smartphone, die ich noch nie ausprobiert hatte (siehe da: Samsung Notes hat auch eine Art To-Do-Liste integriert!). Als ich jemanden mit einer Flasche Wasser an seinen Platz treten sah, erinnerte ich mich, dass meine Wasserreserven auch nahezu erschöpft waren und ich später noch drei Stunden Bahnfahrt vor mir haben würde. Ich sprang spontan auf, bat meine Nebensitzerin, meinen Platz zu verteidigen und ging an die Theke (VOR der Kirche, drinnen gab es keine, aber der eine oder andere hatte tatsächlich legal eine Dose Bier in der Hand, IN der Kirche!).

Als ich mit dem Wasser wieder an meinen Platz kam, sah ich, dass meine Nebensitzerin ihren Arm um meinen Hipster-Rucksack gelegt und sich im wahrsten Sinne des Wortes auf meinem Platz breit gemacht hatte. Alle Achtung! Sie hatte meinen Platz tatsächlich eisern verteidigt! Als ich ihr dankte, rückte sie aber wieder etwas weg zu ihrer Begleitung. Es wurde 20:30 Uhr und dann 20:40 Uhr. Noch immer keine Künstler auf der Bühne, noch immer nichts wegzuarbeiten, nichts mehr zu tun.

Mir fiel nichts Anderes mehr ein, was ich noch tun konnte, außer Gespräche mit Wildfremden anzuzetteln. Obwohl meine Nebensitzerin jetzt ja keine Wildfremde mehr war. Also fragte ich sie und ihren Begleiter, ob sie aus Wiesbaden kämen. „Nein nein, aus Münster und Aachen. Wir sind vorhin angereist und bleiben dann über Nacht“. Wir unterhielten uns ein wenig. Ich sagte, ich dachte ich wäre schon von weit her angereist, aber Münster wäre ja noch ein ganzes Stück weiter. Und dass ich eigentlich wissen wollte, ob Wiesbaden eine schöne Stadt sei. Das hörte die Frau vor uns, drehte sich um und erzählte uns von Wiesbaden. Dass es sehr schön sei, im Krieg kaum zerbombt, aber auch gewissermaßen tot.

Es überrascht mich, das zu sagen, aber das Gespräch gefiel mir. Es muss weit kommen, dass ich lieber mit Menschen rede als mich mit irgendwas Anderem zu beschäftigten. Aber wenn ich es mal tue, macht es fast immer Spaß und es geht mir danach besser. Warum ich das dann so selten tue? Ich weiß es ehrlich gesagt auch nicht. Tiefenpsychologisch bedingt wahrscheinlich die Angst, nicht schlagfertig genug zu sein.

Als das Konzert dann um 20:50 endlich begann, war ich sogar ein klein wenig traurig. Ich hätte mich gerne noch länger unterhalten.

Ach so, und das Konzert? Coole Location, der Sound ein klein wenig underwhelming, die Musikerinnen auf der Bühne (Agnes Obel nannte sie die „Band of Mothers“, weil sie alle inzwischen Mütter seien) sehr sehr gut. Schade nur, dass sie Fuel to Fire nicht gespielt haben. Alle anderen Hits aber eigentlich schon und auch so anspruchsvolles neues Zeug…

Mainz HBF. Meine S-Bahn nach Frankfurt-Flughafen soll laut App in 4 Minuten fahren, ist aber weder am Gleis noch auf der Anzeigentafel in der Bahnhofshalle angeschlagen. Hilfe!

Ich renne zur Information, aber, Mist, da kommt einer vor mir dran, ein Schwarzer, der es leider nicht so eilig hat. Er möchte mit dem 9-Euro-Ticket nach Köln, der Schaltermitarbeiter zu ihm: „Nein, nach Köln kommst du heute nicht mehr mit dem 9-Euro-Ticket, nur noch mit IC oder ICE.“ Druckt ihm was aus, wimmelt ihn irgendwie ab.

Ich komme dran, zeige dem Mitarbeiter mein Handy, auf der Gleis 5 und die S9 steht, erkläre mein Problem, dass das nirgendwo angeschlagen ist. „Oh doch, der kommt! Gehen Sie besser schnell runter. Der kommt, mit 90-prozentiger Sicherheit!“ Ich bedanke mich hastig, sprinte runter zum Gleis und tatsächlich: wenige Minuten später rollt die S9 ein, obwohl sie weit und breit nirgendwo angeschlagen wurde. Als ich einsteige, sehe ich, dass sich der Schwarze einen Vierersitz weiter setzt. Er nimmt die gleiche Bahn.

Der Bahn-Mitarbeiter hat ihn geduzt und mich gesiezt. Ich habe nichts gesagt, weil ich einfach zu sehr in Eile war und ehrlich gesagt auch nicht genau weiß, wie man so etwas de-eskalierend sagt. Aber das darf doch nicht sein. Wo kommt das überhaupt her, dass manche Leute Schwarze und Türkischstämmige einfach so duzen? So etwas muss aufhören!

Daily sort-out: Lese gerade noch einmal „Feeling Good“ von David D. Burns, eins der ersten Bücher über positive Psychologie. Bin überrascht, wie viel davon für mich längst alltäglich ist. Sein Kapitel darüber, wie man verbale Angreifer entwaffnet, ist beinahe amüsant.

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