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Die Kaffee-Extraversion

„Logbuch 4-1703, bis hier höre ich die…

Ach nee, ich schweife ab. Stop. Die Lage ist dennoch ernst. Stop. Die Vorräte gehen zur Neige, und es ist nicht mehr auszuschließen – stop – dass sie nicht mehr bis Ende April reichen werden. Over!

Moment, eins habe ich noch vergessen. Stop. Wie die Außenwelt auf all das reagieren, wie die Nachwelt es bewerten wird – wenn es eine Nachwelt gibt, was wir nicht wissen. Stop. Lasst sie bitte wissen, dass ich Belle geliebt habe. Stop. Trotz allem, was sie heute Morgen über mich…“

„Alter, du weißt schon, dass ich hier neben dir sitze und dir zuhöre, wenn du dein so genanntes Log ins Telefon sprichst.“

„Smartphone nennt sich das, und es ist die Sprachrekorder-App.“

„Ändert nichts daran, dass ich das alles mitkriege. Und du nicht nach jedem zweiten Satz ‚Stop‘ sagen musst. Du hast sie doch nicht alle!“

„Aber du schon, oder was? Trinkst die dritte Tasse, als hätten wir’s dicke!“

„Weil ich es anders mit dir nicht aushalte“.

„Im verschlafenen Zustand, in dem du sonst immer bist?“

„DU schläfst doch den ganzen Tag“.

„Weil die Welt da draußen ja auch immerhin vor die Hunde geht.“

„Das hat dich noch nie gekümmert.“

„Aber jetzt ist es mir wichtig.“

„Ist klar.“

„Warte, wer hat hier jetzt eigentlich was gesagt?“

„Hört man doch in deinem so genannten Log.“

„Ja, aber wenn man das hier liest, kommt man durcheinander. Stop. So wie ich bei dir immer wieder durcheinander komme.“

„Hör auf ‚Stop‘ zu sagen!“

„Ich hab’s nur nett gemeint.“

„Dass ich dich durcheinander bringe?“

„Ja.“

„Hui!“

Danach wäre ich am liebsten über sie hergefallen, aber Belle stand einfach auf und ging aus dem Zimmer. Doch wohl nicht, um sich noch einen Frappuccino mit Sprühsahne und Hagelslag… Aber das wäre dann der vierte. Das würde selbst sie nicht aushalten.

Das hier sage ich tatsächlich jetzt off the record. Wenn es mit Belle auch anstrengend ist. Ich bin froh, dass ich sie bei mir habe in dieser Zeit. Seit Monaten zehren wir von den Vorräten, die man uns für diese Mission gegeben hat. 250 Gramm Sidamo-Espresso, Tansania, noch ungemalen, 500 Gramm Pamwamba, Malawi, fein gemahlen. Terazul aus Ecuador, 60-40-Mischung von einer Rösterei in der Südstadt, 500 Gramm. Dabei löst Robusta in mir Wahnvorstellungen aus. Ich versuche, es Belle unterzumischen.

„Zu viel Filterkaffee, zu wenig Espresso“, hatte sie sich beschwert.

„Dann stehen wir die Tage entspannter durch“, lobte ich die Mischung.

„Aber wir werden nicht richtig wach.“

„Wozu denn auch, wir müssen doch nur hier durchhalten und Videos gucken. Willst du den Plot von Sex/Life etwa mitkriegen?“

„Lieber Sex/Life haben“, lachte sie.

Ich lachte auch. Etwas lauter als sie.

Danach wäre ich nun wirklich gerne über sie… aber sie lachte nur und murmelte etwas von „heut Abend vielleicht“. Langsam kamen wir mit den Zeitebenen durcheinander. Das passiert, wenn man so lange hier eingesperrt ist, wie wir es sind.

Waren es sieben oder zehn Wochen? Ich konnte es nicht mehr sagen. Alleine, dass die Vorräte langsam zur Neige gingen, ließ sich nicht mehr leugnen. Und an das Danach wollte keiner von uns denken. Das Danach und das Dadraußen. Keiner konnte wissen, wie die Welt da draußen aussah, seit wir uns hier eingeschlossen hatten, notgedrungen eingeschlossen, sagte Belle, sage ich auch.

Ob nicht längst marodierende Zombies von Haus zu Haus gingen? Woran würde man das eigentlich merken, hier im vierten Stock? Der Strom lief noch, aber das Haus hatte Fotovoltaik, das Wasser auch noch, aber mit eigener Grundwasserspeisung und Pumpe – clever vorgesorgt hatte er, der Vermieter. Gott habe ihn selig. Wir hatten seit Wochen nichts von ihm gehört und mussten das Schlimmste annehmen.

Und eines Morgens war es dann so weit. Die weißen Papiere für den Filterkaffee gingen zur Neige. Ich musste lachen, als ich das sah, lange lachen, zu lange lachen, nie hätte ich gedacht, dass dieser Riesenberg an Filtern zur Neige gehen könnte. Niemals, nie!

„Werd nicht hysterisch!“, schalt mich Belle.

Du wirst hysterisch!“

„Dann holen wir halte neue!“

„Vom Supermarkt unten oder was? Mensch, siehst du denn nicht, was hier los ist? Die V60-Filter!“

„Die weißen?“

„Die weißen!“

„Oh“, sagte sie.

„Ja“, sagte ich.

Das Internet! Es müsste doch noch funktionieren, oder etwa nicht? Ich konnte an Belles Augen ablesen, dass sie dasselbe dachte. Wir sprinteten zum Rechner, beinahe stieß ich mich an der Tür, sie war erstaunlich schnell, ich hielt sie am Hemd fest (war das nicht meins?), riss es dabei kaputt.

„Das wirst du büßen“, keuchte sie. „Schon wieder!“

„Das war mein Hemd!“

„Mir steht es besser.“

„Das ist jetzt nicht wichtig.“

„Nein, wirklich nicht.“

„Nicht jetzt.“

Wir rannten weiter Richtung Laptop, fielen durcheinander, aufeinander, übereinander. „Sex?!“ dachte ich und sagte es wohl auch. Sie sah mich strafend an.

Ich war als erster am Laptop, setzte mich, atmete einmal kurz durch. Belle stoppte hinter mir. Langsam öffnete ich den Deckel. Würde er noch… Er funktionierte!

Amazon, V60-Filter, Minimalistenpackung, 100 Stück, Versand bis morgen, secure payment. Würde das reichen? Ich sah zu Belle hinauf. Sie nickte ernst. Ich drückte ab.

„Erledigt“, sagte ich und ließ meinen Kopf gegen ihr Becken sinken. Sie nahm ihn und streichelte ihn.

Du bist erledigt“.

„Sagst du so. Ich hab uns doch gerade gerettet.“

„Noch sind die Filter nicht hier.“

„Ich hab das Gefühl, die werden das hinkriegen.“

„Und wenn nicht?“

„Haben wir noch die Robusta-Mischung.“

„Die du seit letzter Woche versuchst mir untermischen.“

„Das hast du gemerkt?“

„Hallo, wir hausen seit Wochen zusammen auf 40 Quadratmetern.“

„Vielleicht sollten wir langsam mal rausgehen.“

„Glaubst du denn, dass es sicher ist?“

„Wie schlimm kann es sein?“

„Kaum schlimmer, als mit dir!“

„Du bist unglaublich.“

„Und du erst.“

„Hast du das denn eigentlich ernst gemeint?“

„Was?“

„Was du da vorhin in deinem komischen Log gesagt hast, dass du mich liebst, trotz allem.“

„Ich glaube schon. Und du?“

„Sonst wäre ich kaum noch hier.“

„Dann sage ich mal: danke.“

„Ja, du mich auch.“

„Logbuch 4-1706. Wir haben durchgehalten. Stop. Es ist Mai. Stop. Keine Frage, ob ich den Dolce e Gusto noch sehen kann. Doppel-Stop. Er wurde als Notfallkaffee gekauft. Wir können nur hoffen, dass das Dadraußen noch existiert mit seiner Abstra-, Akstra…“

„Abstraktion heißt das.“

„Danke, Abstraktion.“

„Was soll das überhaupt heißen?“

„Das geht dich nichts an, ich bin mitten in meinen Aufzeichnungen, das ist privat“.

„So privat, dass du dabei neben mir sitzt und ich nicht weghören kann.“

„Dann geh woanders hin, ins Schlafzimmer oder so.“

„Kommst du dann mit?“

„Erst wenn ich hier fertig bin.“

„Wann wirst du jemals fertig?“

„Wenn du mich in Ruhe lässt und da draußen…“

„Was soll da draußen eigentlich sein?“

„Nichts, wofür es wert wäre, da rauszugehen, finde ich.“

„Finde ich auch nicht.“

„Dann sehen wir uns im Schlafzimmer?“

„Wenn du das Licht ausmachst, dann nicht.“

„Mache ich dann lieber.“

Und sie ging.

4 Antworten auf „Die Kaffee-Extraversion“

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