Kategorien
OK

Shades of Hate

Ja, wow. Als gäbe es gar nichts Wichtigeres im Moment, regiert gerade der Hass in den sozialen Netzen. Tut er immer, ich weiß. Aber diese Woche scheint es noch einmal besonders schlimm. Es geht dabei nicht nur um Lebensbedrohliches, wozu man Sars-CoV2 durchaus zählen kann. Es geht da auch um Dinge wie Fußball.

Was ich mich da frage, ist: Warum zum Teufel müssen frustrierte Fans Menschen wie FC-Bayern-Manager Hasan Salihamidzic gleich bedrohen, seine Familienmitglieder beleidigen? Nur weil der ein paar Entscheidungen getroffen hat, die einigen Fans nicht gefallen?

Vor allem aber frage ich mich: Wird es nicht langsam mal Zeit, dass der Strafverfolgungsapparat bei so etwas aktiv wird? Die Leute posten Gewaltandrohungen ja nicht selten sogar mit ihren Klarnamen. Dass ist Androhung einer Straftat. Gelten die geltenden Gesetze im Netz nicht (rhetorische Frage) oder was ist da los?

Ferner frage ich mich, warum so viele Menschen den ganzen Social-Quatsch eigentlich noch mitmachen. Wo ist der Benefit, was verspricht man sich davon? Warum sammeln Online-Redakteure immer noch Stimmen von Instagram, Facebook oder Twitter und machen daraus „So reagiert das Netz auf…“. Als wäre das ein Totschlagargument, wenn Gunter Müller aus V. meint, so etwas habe er in den 57 Jahren seines (kümmerlichen) Lebens noch nie erlebt.

Wer heute noch Facebook benutzt, ist in meinen Augen ein Süchtiger, der es noch nicht geschafft haben, sich trotz aller Warnungen und bekannter Nachteile von dort loszureißen. Lächerlich eigentlich. Eine Tageszeitung geht doch auch nicht in eine Tagesklinik für Verhaltenstherapie und druckt anschließend die Meinungen der Patienten.

Oft erscheint es mir, wie gerade jetzt bei der Aktion Allesdichtmachen, als müssten die Leute erst die Meinungen einiger Influencer lesen und sich dann zwingend auf eine Seite schlagen, am liebsten auf die ablehnende, um dann am anschließenden Shitstorm gleich mitzumachen. Gibt es das eigentlich noch, dass man sich eine eigene Meinung bildet, ohne sich vorher anzuschauen, was andere schon dazu gesagt haben? Und dass man vielleicht auch einfach mal sagt: Wisster was? Da habe ich mal gar keine klare Meinung zu, vor allem keine, die ich zwingend öffentlich an alle herausposaunen muss.

Ich hab ehrlich gesagt gar keine Lust mehr, nach soziokulturellen Gründen für diesen Hass zu suchen. Ja, die Leute sind frustriert nach jetzt mehr als einem Jahr Corona-Hin-und-Her. Frustriert sind sie sowieso, weil ihr Leben nicht so geil ist, wie es im Prospekt steht. Ihren Frust auf andere abzuladen, ist trotzdem immer falsch. Und schlimm wird es nicht erst dann, wenn sich der Frust in Gewalt entlädt, wie vergangene Woche auf Schalke, als Fans Jagd aus Spieler und Funktionäre des künftigen Absteigers gemacht haben.

Ich stehe immer nur noch staunend und kopfschüttelnd daneben. Mehr kann ich offenbar auch gar nicht tun, als vielleicht den einen oder anderen mal wieder wachrütteln.

2009, Berlin. Die ersten Bilder habe ich, wie es aussieht, gar nicht selbst gemacht, sondern Nicky war das (laut EXIF-Info mit der Canon Digital Ixus 70). Die letzten beiden sind von mir selbst, und ich glaube, vom iPhone 3GS.

5 Antworten auf „Shades of Hate“

Lieber Jürgen,
als sonst stiller Leser und Fanboy Deines Blogs bin ich zwar eher selten Deiner Meinung, schätze aber Deine Sichtweise. Diesmal regt sich in mir aber so viel Widerstand, dass ich „my two cents“
mal loswerden muss.

Zunächst teile ich Deine Ansicht, dass es aus gutem Grund juristische Grenzen für die Meinungsfreiheit gibt. Wegen dieser – wie auch andere strafbare Handlungen – steht es jedem Nutzer frei, sich an die internet-beschwerdestelle.de (die seit über zwanzig Jahren schon einen ziemlich guten Job macht) oder einer Polizeidienststelle Deines Vertrauens zu wenden (mitunter kann dort sogar online Anzeige erstattet werden).

Dass die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden immer besser sein kann, ist genauso klar wie die Tatsache, dass Staatsanwaltschaften (wie andere Behörden auch) kaputt gespart wurden und es noch immer an ausreichend ausgebildeten und ausgestatteten Ermittlern mangelt. Dennoch sind sie durchaus aktiv. Ich denke, dass hast Du auch schon beobachtet.

Von dort Social Media und Facebook speziell in Frage zu stellen, kann ich auch ein Stück weit nachvollziehen. Es endet für mich aber vor der Feststellung, diese Nutzer als „Süchtige“ zu bezeichnen. Mit dem gleichen Argument kannst Du auch RTL2-Zuschauer und vor allem Bild-Leser diffamieren.

Apropos: Ja, genau diese (auflagenstärkste) Tageszeitung muss gar nicht die Meinung in einer „Tagesklinik für Verhaltenstherapie“ Patienten befragen, denn es gibt offenbar genügend Mitarbeiter in der eigenen Redaktion, die die gleichen Voraussetzungen erfüllen. Noch schlimmer: Erwiesenermaßen werden dort, wie in der Regenbogenpresse auch, die juristischen Kosten für die Konsequenzen von Falschmeldungen mit eingepreist und der von Dir – zu Recht kritisierte – Hass gezielt für mehr Umsatz angestachelt. Um den Bogen zu den Social-Media-Nutzern zurück zu schlagen, können wir gerne über das Thema Angebot und Nachfrage nach solchen Beiträgen diskutieren.

Deine Argumentation zur Frage der Meinungsbildung kann ich ebenfalls nur bedingt nachvollziehen: Weißt Du denn, wie viele Nutzern eben NICHT kommentieren und von denen wiederum auch keine Meinung haben? Aufmerksamkeit bekommen aber vor allem die Schreihälse. Und dass sich insbesondere der Boulevard gerne auf diese, Influencer und F-Promis stürzen, hat aus meiner Sicht oben genannte Gründe. Ich habe aber noch keine Publikation gelesen, die sich auf die Meinung von Gunter Müller aus V. und die Erfahrung seines „kümmerlichen“ Lebens stützt. Nur am Rande: Wer beurteilt eigentlich, welches Leben kümmerlich ist?

Grundsätzlich glaube ich zu ahnen, was Dein Antrieb für den Beitrag war. Dennoch fiel mir spontan die Empfehlung eines erfahrenen Redakteurs ein, nicht mit „Schaum vor dem Mund“ zu schreiben. Sonst bedient man sich derselben Mittel, die Du zu Recht kritisierst.

Nichts für ungut und bitte mach’ mit Deinem sehr lesenswerten Blog weiter!

Sers Marc, ich schreib ganz gerne mal mit Schaum vor dem Mund, weißt du doch.

Ich habe aber noch keine Publikation gelesen, die sich auf die Meinung von Gunter Müller aus V. und die Erfahrung seines „kümmerlichen“ Lebens stützt.

Puh, da habe ich in letzter Zeit leider einige gelesen. Das Social Web ist die ideale Quelle dafür, wenn du als Medium mal schnell eine Gegenstimme zu irgendwas brauchst. Flick geht, Salihamidzic bleibt. „Das Netz schäumt“. (In Indien sterben derweil täglich Tausende an Covid, also was ist wirklich wichtig?). Englisch-Abi-Prüfung zu schwer – „NYT-Autor erntet Shitstorm„. Ingo Zamperonis Krawatte war gestreift statt gepunktet? (fiktives Beispiel). Linda Müller aus Friedrichshafen auf Facebook: „Unfassbar! Das habe ich in 50 Jahren noch nie erlebt.“

Mit dem gleichen Argument kannst Du auch RTL2-Zuschauer und vor allem Bild-Leser diffamieren.

Diffamieren nicht. Vielen von ihnen (teils unbewusste) Sucht ferndiagnostizieren? Durchaus. Ich lese immer wieder, wie schlecht Facebook sei und wie es zum Geschäftsgebaren des Unternehmens gehört, Konflikte anzuheizen, die Leute immer wieder zurückzuholen. Aber auf die Idee, Facebook nicht mehr zu benutzen, kommen viele Menschen nicht. Warum nicht? Entweder, weil man nicht mehr anders kann (Suchtverhalten, non?) oder weil man aus irgendeinem Grund der Meinung ist, dort sein zu müssen. FOMO ist auch eine Art Sucht. Die dritte Seite wären kleine Unternehmen, die sich leider mit einem der Großen ins Bett legen müssen, um Überhaupt noch Umsätze zu machen. Da will ich nichts sagen, die haben keine andere Chance.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.