Gottfried fragt mich noch einmal, was ich eigentlich genau beruflich mache und wie das eigentlich alles genau funktioniere und nennt mich danach einen „Aussteiger“. Sowas hätte er sich nicht getraut, er sei ja nur Beamter gewesen. „Ja warte mal“, sage ich: „DU hast doch ein paar Jahre in einer Kommune gewohnt – wie passt das eigentlich zusammen?“ – „Das hat wunderbar gepasst.“
Die Kommune in dem Dorf in der Nähe bestand von 1978 bis 1987, war mehr Legende als tatsächlicher Sündenpfuhl – und am Ende ziemlich harmlos. Während meine Großeltern Stoßgebete gen Himmel schickten und die Leute im Dorf sich in ihrer Fantasie wilde Orgien ausmalten, lebten am Ende nur vier Paare länger zusammen. Jedes Paar für sich in einem Flügel des gemeinsam genutzten Bio-Bauernhofs, und viel mehr eigentlich auch nicht. Auf die Kinder passte man gegenseitig auf, den Hof bewirtschaftete man gemeinsam. Tagsüber gingen einige aus der Kommune ganz normalen Jobs nach. Gottfried und noch ein anderer waren Gymnasiallehrer. Ein paar wilde Partys, eine offene Sexualmoral? Sicher, aber offenbar auch nicht mehr, als zur gleichen Zeit drüben in Chemnitz. Keine freie Liebe, keine ausgehängten Klotüren, nur ein Miteinander in einer verlängerten Familie und dazu ehrlich verdientes Geld. Eigentlich ein erstaunlich bodenständiges Konzept, seiner Zeit ein wenig voraus und heute wieder modern.
Bevor ich heute los komme, möchte ich noch einmal meinen Hinterreifen aufpumpen. Da war ohnehin schon was wenig Luft drin, und die vergeblichen Versuche, mit einer von Gottfrieds Pumpen da gestern Luft reinzukriegen, haben das alles noch verschlimmbessert (französische Ventile… ?). Aber was tun in einem kleinen Ort, in dem es kein Fahrradgeschäft gibt?
Gottfried kennt einen Kramladen ein paar Straßen weiter. Der hätte bestimmt was da. Gottls Idee ist, langsam mit dem Auto voraus zu fahren, während ich ihm mit dem Fahrrad folgen solle. Warum er eigentlich nicht selbst mit dem Fahrrad gefahren wäre, frage ich ihn hinterher. „Keine Lust gehabt.“ ??♂️
Die Szene hat etwas Absurdes. Im dichten Samstagsvormittagsverkehr fährt Gottl mit etwa 20 km/h vorneweg – es geht leicht bergauf, ich komme mit dem Rad kaum schneller hinterher. Aus dem Fahrerfenster gibt er mir Handzeichen für die richtige Richtung. Andere Autos überholen uns oder warten geduldig.
Am Kramladen angekommen, hat dieser natürlich Betriebsurlaub. Also weiter zur letzten Bastion: der örtlichen Tankstelle. Wir haben sogar an den richtigen Adapter gedacht. Aber der Luftdruckregler pumpt keine Luft in den Reifen.
Im gleichen Moment kommt ein älterer Tankstellenmitarbeiter vorbei und bietet uns spontan seine Hilfe an. Er organisiert eine Verlängerung, aber auch die kann nichts ausrichten. Doch aufgeben ist nicht. Der Mann bittet uns, ihm in die Werkstatt zu folgen, wo er einen alten Kompressor stehen hat.
Mit Adapter, Verlängerung und Kompressor hantieren zwei von uns schließlich an meinem Hinterreifen herum, während der Dritte das Rad festhält, weil es ja keinen Ständer mehr hat. Aber das Manometer bleibt auf null. Wir probieren es noch einmal: wieder null. Erst dann fühlt mal einer von uns den Druck am Reifen selbst: er ist voll aufgepumpt!
Oha, ob das wohl zu viel war? Wie viel Luft ist da jetzt drin? Es sieht so ganz in Ordnung aus. Wir lassen es also dabei, verabschieden uns dankend und rollen von dannen.
Nachdem ich noch ein letztes Mal kurz in den Pool gehüpft bin und wir noch einen Kaffee zusammen getrunken haben, verabschiede ich mich sehr herzlich und fahre los. Was für ein toller Onkel!
Es ist schon 1340 Uhr. Und die 24 Stunden ohne in eine Pedale zu treten, haben mir gut getan. Es geht anfangs noch ein paar steile Hügel hinauf, aber es macht mir nichts aus. Und danach geht es bis Braunschweig und danach die 50 km bis Hannover nur noch bergab.
Gegen 1600 Uhr erreiche ich Peine und gönne mir in einem Lokal ein Stück Kuchen und einen Kaffee. Ich schreibe Markus und Britta, dass ich schon im Endspurt wäre, und plötzlich beginnt es sogar leicht zu regnen. Und dann passiert etwas.
Als ich zu meinem Fahrrad zurückkehre und losfahren will, merke ich: da stimmt was nicht. Der Reifen hinten hat kaum noch Luft. Och nein, das ist jetzt irgendwie schlecht.
Schon morgens hatten sich die beiden Nachbarn meines Onkels im Spaß über mich amüsiert – nicht ganz zu Unrecht, wie ich gestehen muss. Fährt da einer einmal quer durch Deutschland und hat keine Luftpumpe dabei.
Dabei habe ich sogar extra mal eine handliche Reiseluftpumpe mit Akku gekauft, die auf Knopfdruck Luft aufpumpt. Ich habe sie zu Hause gelassen, weil ich in meiner unendlichen Weisheit dachte: ein Fahrradgeschäft mit Luftpumpe draußen findest du doch an jeder Straßenecke.
Ja, genau…
Ich frage den Besitzer des Cafés, ob er ein solches Fahrradgeschäft in der Nähe kenne. Ja, sagt der, da sei gleich eins um die Ecke. Aber es sei Samstagnachmittag und ob das jetzt noch geöffnet habe… Hat es natürlich nicht. Und eine Luftpumpe hat es draußen auch nicht stehen, als ich dort ankomme. Was nun, was jetzt tun? Ich sehe akut keine bessere Lösung als: andere Menschen um Hilfe bitten.
Und so versuche ich es zunächst bei einem älteren Ehepaar, das gerade seine genau gleich aussehenden E-Mountainbikes aufschließt. Nein, täte ihnen Leid, eine Luftpumpe hätten sie nicht dabei. Aber sie sehen unzufrieden aus darüber, dass sie mir nicht helfen konnten. Ich bedanke mich und spreche direkt die nächsten an. Ein Typ etwa Mitte 30 mit seiner Freundin, beide auf einem E-Bike. Ja, sagt der, er hätte eine kleine Notfallpumpe dabei. Müsse man zwar 200-mal pumpen. Aber immerhin. Ich nehme sein großzügiges Angebot an und sattele meine Taschen ab. In der Not frisst der Teufel Fliegen. In der Zwischenzeit kommt auch das ältere Ehepaar wieder dazu. Sie haben ein Repair-Notfallspray in der Satteltasche gefunden.
Am Ende probieren wir beides. Das Spray spuckt einen weißen Schaum aus, der Typ mit der Pumpe ist all in und pumpt selbst mindestens 150-mal, bis der Reifen sich langsam hebt und ich ihn ablöse. Seine Freundin steht abwartend abseits. Sie hatten etwas Besseres vor, das sehe ich ihr an. Dass sie mir trotzdem helfen: unbeschreiblich!
„Ich würde jetzt direkt zum Bahnhof fahren“, sagt der hilfsbereite Mann mit der Pumpe. „Das hält bestimmt nicht lange, und beim nächsten Mal stehst du irgendwo in der Pampa“. Ich weiß, dass er natürlich Recht hat. Aber ich will so schnell noch nicht aufgeben. Ich bedanke mich bei allen von Herzen und gebe dem älteren Ehepaar 10 Euro als Ersatz für Ihr Notfallspray. Dann lade ich mein Zeug wieder auf und suche auf Google Maps nach Geschäften.
Ich weiß, dass Kaufland eine Fahrradabteilung hat, und siehe da: in 3 km Entfernung gibt es eine Filiale. Ob der Reifen wohl so lange noch hält? Auf dem Weg dahin komme ich an einem weiteren Fahrradgeschäft vorbei, das natürlich auch geschlossen hat.
Bei Kaufland angekommen, sehe ich, dass der Reifen beinahe schon wieder platt ist. Aber die Luft hat gerade noch gereicht. Im Laden shoppe ich eine Doppelhub-Luftpumpe und ein weiteres Notfallspray. Draußen sprühe ich den Rest in den Reifen und pumpe mit mindestens 200 Stößen den Reifen noch einmal auf – und bin guter Dinge: das könnte mit etwas Glück die 40km bis Hannover halten. Ich kündige mich bei Markus und Britta an und fahre los.
Genau 2 km später muss ich einsehen: es geht nicht. Der Reifen ist schon wieder platt. Und das Ventil nimmt jetzt gar keine Luft mehr an. Ob wir das am Morgen in der Tanke mit unseren zahlreichen Versuchen geschrottet haben? ???
Jetzt bleibt mir nur noch als Option, den Schlauch zu wechseln. Einen solchen habe ich tatsächlich eingepackt, Notfall-Schlüsselset und Mantelheber auch. Also eigentlich alles dabei. Aber verflucht: ich bekomme mit dem kurzen Hebel des Notfallwerkzeugs die Reifenmutter nicht gelöst. Und ich erinnere mich: die hatten die Jungs in dem Fahrradladen in Karlsruhe extra fest angezogen, damit sich der Bremsschlitten nicht mehr mitbewegt. Na klasse.
Ich gebe auf und beschließe, dann doch den Zug zu nehmen – wohl wissend, dass ab jetzt Murphys Law greift. Alles was schief gehen kann, geht jetzt auch schief: Der Bahnhof ist 2,5 km entfernt. Ich muss schieben und so verpasse ich die erste mögliche Bahn. Die zweite würde eine halbe Stunde später fahren, aber fällt aus. Nächste Fahrt erst eine Stunde nach der ersten. Und so schiebe ich zum Bahnhof, komme wie zum Hohn noch einmal an einem längst geschlossenen Radgeschäft vorbei und dann 50 Minuten vor dem nächsten Zug am Bahnhof von Peine an. Es fallen mehr Züge aus als noch kommen, also ist klar: den nächsten muss ich erwischen:
Aber was soll ich mich da jetzt aufregen, denke ich. Ändern kann man ja eh nichts. Ich beschließe, die Wartezeit schon einmal mit einem Bier zu verkürzen und mit Markus schon einmal fernzuzuprosten. Und so schiebe ich mein Rad vor eine Bahnhofskaschemme der Art, in die ich normal niemals gehen würde, und gehe rein:
Es gibt Spielautomaten, zwielichtige Gestalten, eine tätowierte Mutter Oberin, Volbeat aus der Lautsprecheranlage – und regionales Bier für gerade mal 1,50 Euro die Flasche. Na also, gar nicht schlimm da! Zumal es eine Terrasse gibt, auf die ich mich setzen und die ähnliche Zusammensetzung im Laden gegenüber studieren kann:
Wenig später auf dem Bahnsteig geselle ich mich zu dem einzigen Ehepaar, das außer mir noch mit Fahrrädern unterwegs ist, und wir smalltalken kurz, etwa darüber, wo wohl das Fahrradabteil sein wird (note to my future self: meist am Anfang und Ende eines RE). Klar ist auch: ich muss in den Zug jetzt irgendwie rein. Denn der nächste kommt erst in zwei Stunden – vielleicht.
Und es kommt, wie es kommen muss: die Bahn rollt ein, wir stehen vorne, und vor dem Fahrradabteil ist die Tür defekt. Wir wollen es über die Nebentür versuchen, doch die Schaffnerin hält uns auf: nein, leider nicht erlaubt. „Aber wir könnten doch da eben durch…“ Nein, leider nicht erlaubt. Ich beginne zu diskutieren. Dass dies der einzige Zug in drei Stunden sei, der nach Hannover fährt und dass die Deutsche Bahn ein Sau… Ja, täte ihr Leid, aber nichts zu machen. Ich könne es nur am anderen Ende des Zuges noch versuchen.
Das Ehepaar ist längst auf dem Weg dorthin, und ich sprinte hinterher – so gut das mit einem schwer beladenen E-Bike mit einem Platten eben geht. Das Paar hilft mir. Der Mann fährt vor und öffnet, die Frau stellt sich in die Tür, damit ich es noch hinein schaffe. Die Menschen in diesem komischen Land können unfassbar hilfsbereit sein, wenn man sie nur mal lässt – und wenn man dabei nicht wie ein Penner aussieht.
Und wir haben Glück. Das hintere Fahrradabteil ist noch fast leer. Wir finden alle einen Platz für unsere Räder.
Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Denn ich komme mit dem etwa gleichaltrigen Typen ins Gespräch, der mir gegenüber sitzt und dem Ehepaar und mir ein Fisherman’s Friend Lemon anbietet. Sie lehnen ab – ich nehme an. Die Dinger mag ich zufällig. 😉
Und der Typ ist schräg.. Auch er hat ein Fahrrad hinten stehen. Auf meinen Hinweis, dass das gerade umgefallen sei, winkt er ab: „Ist ja nur ein Gegenstand, weißt du, und da wird sich schon einer drum kümmern.“ Und so ist es dann auch. Ein weiterer Radfahrer, der als letzter kam und daneben sitzt, nimmt sich das Fixierseil und befestigt das Rad meines Gesprächspartners an der Zugwand. Problem tatsächlich gelöst.
Aber weiter geht’s. Er würde nur nach Hannover fahren, weil er da abends gut nackt baden und sich einen durchziehen könne. Aha. Nein, kein Gras, nur Haschisch, eine bestimmte Sorte, die sie in Holland für 8 Euro das Gramm verkauften, den Bauern in Marokko aber nur 8 Cent dafür zahlen würden. Deswegen hätten die auch alle einen solchen Hass auf uns. Und auf die Schweiz sollte man ein paar Wasserstoffbomben werfen. Hätten die verdient.
Das alles klingt mir halb im Scherz gesagt, und irgendwie mag ich den Typen. Und so tue ich, was ich mir ein paar Tage zuvor als Grundsatz notiert habe, und lasse ihn einfach weiter reden ohne zu werten. Dadurch erfahre ich noch, wie er es sich als Fünfjähriger – angeblich – einmal eine Stunde lang in Schloss Neuschwanstein im Königlichen Schlafgemach auf der Matratze bequem gemacht hatte. Seine Eltern hätte er erst angeblich später auf dem Parkplatz wiedergetroffen, gemerkt hätte es keiner. Und wie er seine Eltern auf der gleichen Reise in Bern einmal verloren habe. Sonderbare Eltern, denke ich. Rührt daher sein Hass auf die Schweiz?
Das Ehepaar neben uns denkt sich seinen Teil und sagt nichts. Der Typ und ich amüsieren uns die 25 Minuten Fahrt nach Hannover köstlich.
Markus holt mich schließlich am Bahnhof ab, und wir schieben zusammen Richtung List. Markus, Britta und Mika haben mir noch reichlich zu essen übrig gelassen, und es wird noch ein gemütlicher Abend auf dem Balkon.
Wir reden über die Schulzeit. Markus und ich waren in der Oberstufe dicke Freunde und sind es eigentlich noch immer, aber ansonsten war ich damals sehr froh, das Abi geschafft zu haben und aus dem Ganzen herauszukommen. A propos: In ein paar Wochen wäre 25-jähriges Jahrgangsnachtreffen, sagt er. Und ich weiß das sogar. Würde ich kommen? Nein, sage ich, zu viele unliebsame Erinnerungen. Er nickt. Das könne er gut verstehen.
Morgen gilt es, irgendwie den Schlauch auszuwechseln und ein Stück weiter in Richtung Hamburg zu fahren. Sollte doch eigentlich möglich sein, hoffentlich. Passenderweise haben auch sie ein Fahrradgeschäft direkt gegenüber, aber morgen ist ja Sonntag…
Was für ein Tag! Eigentlich ist es mir immer am liebsten, wenn alles reibungslos funktioniert. Aber dann hätte ich nicht einmal die Hälfte zu erzählen…
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Notizen
In Braunschweig ist CSD:
Und paar hübsche Ecken gibt es da auch:
Und dann sogar auch in Hannover:
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Seriously, Deutsche Bahn? Klar, jeder hat gerade das 9-Euro-Ticket, aber der reguläre Preis von Peine nach Hannover wären wirklich über 100 Euro?! Für 25 Minuten Fahrt im RE?!
Eine Antwort auf „Hilfsbereitschaft (Etappe 14)“
Also bei mir kostet Peine – Hannover 8,30€. Flexpreis mit IC…