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Almost there (Etappe 18)

Ich wache mit einem Brummschädel auf, und alles ist nass von Nebel, Morgentau und Schwitzwasser. Dazu begrüßt mich Robert aus Amsterdam mit einem lauten „goedemorgen!“ und noch etwas Unverständlichem auf Niederländisch, kaum habe ich das Zelt zum Lüften aufgemacht. Ich erwidere schwach seinen Gruß, dann lege ich mich einfach wieder hin, um eine Meditation zu starten. Auf Robert habe ich jetzt keine Lust. Richtig andächtig kann ich der Meditation dann aber nicht lauschen, denn Robert hat sich statt meiner den Franzosen geschnappt, der mit uns zeltet. Und ihr Smalltalk wird laut.

Der Franzose ist anfangs clever und antwortet auf Roberts streng platonische Annäherungsversuche auf Französisch nur mit einem „Ok“. Später wechseln sie auf Englisch und ab da hat Robert ihn so weit, dass er da so schnell nicht mehr raus kommt. Ich nutze die Chance und baue schnell mein Zelt ab. Eins muss man Robert natürlich lassen.: Er spricht mindestens drei Fremdsprachen fließend. Respekt!

Ganz komme ich um ein paar niederländische Abschiedsgrüße – die prompt korrigiert werden – natürlich nicht herum. Robert sagt, ich erinnere ihn an Nico Hülkenberg. Der frühere Formel-1-Rennfahrer wuchs in Emmerich auf, spricht fließend Niederländisch mit deutschem Akzent und gab schon Interviews auf Niederländisch für das dortige Fernsehen. Wenn ein Deutscher Niederländisch spricht, scheint das genauso ulkig – oder sogar niedlich – zu klingen wie umgekehrt. Mal sehen, ob und wie ich das noch zu meinem Vorteil nutzen kann. 😉

Als ich mich dann mit einem „tot ziens“ verabschiede und losrolle, bin ich guter Dinge. Etwa 120 km sind es noch bis Klanxbüll, von wo die Bahn rüberfährt. Theoretisch könnte ich also schon heute Abend auf Sylt sein.

Büsum

Praktisch mache ich erst einmal einen Umweg über Büsum (sehr hübsch) und dann nach Husum (auch), wo ich einen Kaffee trinke und kurz einkaufen gehe. Ich kaufe in einem Blumengeschäft einen Topf Chrysanthemen (aha, ausgerechnet da funktionierst du mal nicht, du ansonsten völlig übermotivierte Autokorrektur… ?) und im Aldi ein wenig Verpflegung für später.

An der Nachbarkasse gibt es Stunk. Ein Kunde aus Somalia (das wiederholt er mehrmals) behauptet, für seine Bierdosen nicht genug Wechselgeld bekommen zu haben, beschwert sich lautstark auf Englisch, will sich nicht beruhigen und vor allem: keinen Meter von der Kasse fortbewegen. Die Kassiererin und der Kunde hinter ihm reden mit ihm. Die Filialleiterin kommt hinzu, versucht den Konflikt zu lösen, schafft es nicht, droht, die Polizei zu rufen und tut es dann.

Es wirkt surreal. An der Nachbarkasse, an der ich stehe, geht der Verkauf einfach weiter als wäre nichts. Und die übrigen Kunden stehen vor dem klassischen Was-tun-Dilemma. Man hat hinten am Band oder auf der anderen Seite der Kasse gar nicht richtig mitbekommen, was genau passiert ist und wer hier wohl im Recht ist. Ich höre nur ein „don’t touch me“, „calm down“, „yeah, call the police!“ und „you’re ruining my life“.

Weil ich jetzt auch nicht der Fünfte sein will, der sich noch einmischt, weiß ich nichts Besseres zu tun als einfach zu gehen. Draußen packe ich meine Sachen ein und sehe den Polizeiwagen vorfahren. Als ich so weit bin, sehe ich, wie zwei Polizisten und eine Polizistin den Mann mit nach draußen genommen haben und ihn dort befragen. Es wirkt friedlich. Ein Polizist redet mit dem Mann, der noch recht aufgebracht wirkt. Seine Bierdosen hat er bei sich. Ich schaue mir das Ganze noch eine kurze Weile an, dann fahre ich weiter.

Die Blumen sind für Beate und Peter. Die älteren Leser:innen unter euch erinnern sich noch: Ich habe die beiden recht früh am Anfang meiner Tour in Nordbayern auf einem Campingplatz getroffen. Sie haben mir geholfen, meine Wäsche aus der Maschine zu befreien und mich dann nach einem kurzen Plausch zu sich nach Hattstedt bei Husum eingeladen. „Wenn du da vorbei kommst, kannst du gerne bei uns übernachten.“

Das fand ich etwas zu viel der Nettigkeit – ich will ja keine Umstände machen. Außerdem will ich es ganz ehrlich heute noch etwas weiter schaffen als Hattstedt. Aber ich hatte mir fest vorgenommen, wenigstens eben zu klingeln und hallo zu sagen, wenn ich durch den Ort komme. Wir haben gestern noch telefoniert. Sie sagten, sie wären nachmittags wahrscheinlich noch auf Arbeit, und ich komme gegen 1530 dort vorbei. Also beschließe ich, die Blumen vor der Eingangstür zu drapieren und eine kleine Notiz mit einem Gruß dazulassen. Doch als ich das Haus erreiche, steht Beate im Garten und werkelt am Efeu. Na sowas!

Ich werde in die Gartenlaube gebeten. Wir trinken was und unterhalten uns über unsere Reisen. Wenig später kommt auch Peter dazu, wir trinken Kaffee und reden über die Arbeit und das Leben. Beide wirken auf mich entspannt und lebenslustig. Neben ihrem Camper steht auch ein Sportwagen im Carport. Peter arbeitet tatsächlich für einen Hersteller für Wohnmobile in der Produktion, Beate im Krankenhaus. Sie fahren gerne Rad, wandern oder gehen an den Strand. Sie wohnen da, wo andere Urlaub machen – sagen sie selbst. Und sie scheinen das Leben zu genießen.

Es wird Fünf und es ist sehr nett. Beate schlägt vor, dass wir uns etwas zu essen bestellen. Aber ich weiß, so schön es gerade ist: wenn ich noch zum Essen bleibe, komme ich da heute nicht mehr weg. Was ich eigentlich gar nicht zwingend müsste, sagt mein Herz. Aber diesmal beschließe ich, auf den Kopf zu hören, der „weiterfahren“ sagt. Sonst wird es knapp mit Sylt.

Und heute bin ich zwar lange, aber eigentlich mal ganz fit unterwegs. Dabei habe ich am Morgen sogar beschlossen, den Motor heute nur dann anzuschalten, wenn es gar nicht mehr anders geht. Nicht immer den bequemen Weg gehen! Was ist denn das auch für eine Einstellung!

Die Strecke führt viel hinter den Dünen entlang, was angenehm ist und die Fahrt auch ohne Akku trotz des Windes möglich macht. Und dann sehe ich auch endlich mal das Meer:

Bisher war immer nur Ebbe gewesen. Schön dass sich das noch ändert.

Auf dem Weg zu meinem heutigen Tagesziel Dagebüll komme ich auch an der Hamburger Hallig vorbei (eine ehemalige Hallig, heute fast dauerhaft mit dem Festland verbunden) und mache einen kurzen Abstecher dahin:

Und noch etwas fällt mit auf: die Natur ist hier oben in einem deutlich besseren Zustand, dem besten, den ich auf meiner ganzen Tour gesehen habe. Alles ist deutlich grüner, das Gras ist saftig, das Vieh sieht glücklicher aus. Peter hatte das bei unserem Plausch schon kurz eingeworfen: „Hier hat es eigentlich sehr viel geregnet, die letzten Monate. Zum Beispiel den ganzen Februar hindurch.“ Die Eider etwas südlich von Husum wäre eine Art Wasserscheide und regnen würde es immer nur auf einer Seite davon, meist der nördlichen.

Heute zum Glück nicht. Ich komme trockenen Fußes nach Dagebüll. Und bin tatsächlich die ganze Strecke gegen den Wind ohne Motor gefahren. Yeah!

20 km sind es von hier noch bis Klanxbüll. Das ist die letzte Station, in die man in eine Bahn nach Westerland auf Sylt einsteigen kann. Und wenn meine Informationen stimmen, kommt man als Radfahrer zumindest ganz hier oben nicht mehr anders auf die Insel.

Also Klanxbüll mit dem Rad (wenn ich nicht vorher doch noch einen kleinen Abstecher mache), nach Westerland mit der Bahn, dort die fünf Campingplätze nach freien Plätzen abgrasen und vielleicht schon dabei einmal die Insel erkunden. Alle, die ich dazu fragte, sagten mir, man käme ganz einfach mit dem Rad in eine der Bahnen, weil da kaum jemand sein Fahrrad mitnähme. Das kann ich irgendwie nicht so ganz glauben…

Regnen soll es heute angeblich die halbe Nacht durch, wofür dann morgen wieder gutes Wetter ist. Machen wir so!

Notizen

Gleich zum Start meiner Tour in Bayern dachte ich: „Du musst dir unbedingt ein Halstuch kaufen!“ Ich schwitze viel am Hals, bekomme schnell Nackenprobleme durch den Fahrtwind, wenn auch immer nur links.

Dann fand ich ewig keinen Laden und gab die Idee irgendwann dran. Mein Mikrofaser-Handtuch musste als Ersatz herhalten, was einerseits natürlich fies war und anderseits auch bisschen komisch ausgesehen haben muss. Na jedenfalls heute in Büsum habe ich einen Laden gesehen, der so etwas verkauft, mich sofort in eins verguckt und dann schnell geshoppt. Was sagt ihr: da haben sich doch zwei gefunden, oder? Wenn auch spät…

Kurzgeschichten. Okay, viele schaffe ich noch nicht am Tag, da fehlt mir jetzt einfach die Zeit für. Aber mal richtig cool fand ich (heute beim 1. Kaffee gelesen) „Vorsicht Steinschlag“ von Thea Dorn. Googelt mal danach und lest das! Geht schnell, ist toll!

Noch paar Impressionen von heute:

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Babel (Etappe 17)

Ich wache früh auf und habe alle Zeit der Welt. Es hat nicht noch einmal geregnet, es war auch nicht zu kalt auf dem Sand und ich habe gut geschlafen. Heute habe ich kein klares Ziel vor Augen. Ich weiß nur: in zwei Tagen sollte ich dann mal auf Sylt ankommen.

Drum lasse ich meine Sachen noch ein bisschen trocknen, packe langsam zusammen, bestelle mir einen Kaffee im schon geöffneten Bistro und unterhalte mich mit dem Mann, der mir am Tisch gegenüber sitzt. Er ist mit seiner Familie mit dem 9-Euro-Ticket angereist ist und findet, dass das Anspruchsdenken der Leute zu groß geworden sei. Das 9-Euro-Ticket sei ein Stück Freiheit, das es der ärmeren Bevölkerung zum ersten Mal ermögliche, diese Freiheit auch zu erleben. Nebenbei: Lindner sei ein Idiot.

Ich vermute, weil der das 9-Euro-Ticket wegen schwieriger Finanzierung nicht weiterlaufen lassen will. So rolle ich zumindest auch dank Lindner erst um 1030 los.

Unterwegs passiert nicht viel, aber kein echtes Ziel und es auch nicht so eilig zu haben, macht entspannt. Zu entspannt? Ich unterhalte mich mit einigen anderen Reisenden. Unter anderem dem älteren Ehepaar auf den E-Bikes, das diesen Sommer Inselhopping in Nordfriesland gemacht hat. „Welche Insel war am schönsten?“, frage ich. „Amrum“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. Sylt sei eine reine Geldinsel geworden, Föhr wie eine Hallig, Amrum habe die schönsten Strände.

Ich fahre ein Stück an den Deichen entlang. Es ist irgendwie superheiß, am Himmel steht nachmittags keine Wolke mehr, dazu weht ein kühler, aber auch sehr frischer Wind, der mich irgendwie austrocknet. Ich saufe wie ein Loch. Fülle meine Trinkflasche insgesamt dreimal wieder auf und kaufe mir zusätzlich noch eine Flasche Gerolsteiner Medium im Supermarkt (das wird mein Lieblings-Mineralwasser).

Und so bin ich froh, als ich dann endlich meinen geplanten Zeltplatz nahe Büsum erreiche, und noch froher, dass es sich ein gesprächiger Niederländer da schon bequem gemacht hat. So wirklich lange währt die Freude dann allerdings nicht.

Denn nachdem ich Robert aus Amsterdam mit meinen paar Niederländisch-Floskeln zu beeindrucken versuche, springt er voll drauf an. Er verlangt von mir, jetzt nur noch Niederländisch zu sprechen, lässt es sich dabei aber auch nicht nehmen, jeden kleinsten meiner Fehler direkt zu korrigieren. Und das wird mir schon bald unangenehm. Ich saß 7 Stunden auf dem Rad, bin todmüde und eigentlich habe ich gar keine Lust, jetzt noch eine Niederländisch-Lektion der alten Schule zu bekommen.

Zum Glück habe ich noch genug zu tun, um danach zu verschwinden: E-Bike-Akku aufladen, duschen, Wäsche waschen und mir schließlich auch das Meer anschauen, zumindest das, was davon gerade da ist:

Als ich zurück komme und mir einen Platz zum Bloggen weit weg von Robert suche, kommt auf einmal ein kleines Mädchen angelaufen. Sie versucht, die Tür der Gaststätte zu öffnen, sagt etwas von Bonbon und kommt dann strahlend zu mir, um mit mir zu reden und sich in den Arm nehmen zu lassen.

Das einzige Problem dabei: Sie spricht nur Französisch und denkt trotzdem, dass jeder sie verstehen kann. Mein Schulfranzösisch ist mittlerweile aber so weit vergessen, dass ich sie nicht einmal fragen kann, wie sie heißt. Ich bekomme es gerade noch zusammen zu sagen, dass ich kein Französisch spreche (danke, Namika ?) und sie leider nicht verstehen kann.

Sie versteht nicht, was Französisch ist und dass ich sie nicht verstehen kann. Aber das macht eigentlich gar nichts, denn sie weicht mir trotzdem nicht von der Seite. Weil ich nicht weiß, was ich sonst noch machen soll, mache ich ein Foto von ihr, für das sie bereitwillig posiert – und was ich hier nicht veröffentlichen werde, weil man Bilder kleiner Kinder nicht einfach so ins Netz stellt. Sorry.

Ihre Mutter kommt schließlich dazu, spricht fließend Deutsch (ist Deutschlehrerin) und wir unterhalten uns auch noch ein wenig. Meine Güte, wie niedlich, also beide. 🙂

Ja. Und gleich gehe ich mal zurück zum Zeltplatz und rede noch ein wenig mit Robert aus Amsterdam. Aufgeschlossen ist er ja eigentlich. Man muss solche Menschen dosieren, denke ich. Es muss dieses Abgrenzen sein, von dem Johannes neulich in einem Kommentar sprach. Interessanterweise fand ich den anderen Mitzelter, der fast gar nichts gesagt hat, am Ende interessanter. Vielleicht hat er auch deswegen nichts gesagt, weil er mit Robert schon durch war. Aber mehr reden = mehr sympathisch? Hier zeigt sich also noch einmal, dass die Rechnung nicht aufgeht.

Und wie vielen eigentlich ruhigeren Zeitgenöss:innen bin ich wohl schon auf die Nerven gegangen, indem ich einfach nur gesmalltalkt habe (was ich ja früher auch nicht mochte)? Es ist gar nicht so einfach, da das für jeden erträgliche Maß zu finden.

Heute kam ich an Schafen, Kühen, Enten vorbei – und habe ein sonderbares Verhalten an ihnen bemerkt. Die Schafe wirkten unglücklich, standen teilweise in ihrem eigenen Kot. Enten sammelten sich im Schatten, wie auch Kühe längst dahin geflüchtet sind. Einen guten Eindruck haben die alle nicht auf mich gemacht. Klar, die leiden auch unter der Dürre und der Hitze. Aber es wirkt fast, als wäre da etwas Größeres im Gange, als wäre das Nutzvieh müde, dem Menschen noch nützlich zu sein.

Morgen geht es weiter Richtung Norden. Peter und Beate aus Husum (die ich auf einem Campingplatz in Bayern traf, ihr errinert euch) haben mich zu sich eingeladen. Aber ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob mir das nicht sogar zu nah von hier ist. Würde am liebsten noch ein Stück weiter kommen – und hier langsam mal fertig werden… Mir geht es wie dem Nutzvieh – ich mag irgendwie nicht mehr. Die Reise war schön, aber es ist dann auch gut, wenn sie jetzt bald zu Ende ist.

Robert und ich gehen noch ein wenig auf dem Deich spazieren. Er raucht sich einen, wir reden ein wenig über unsere Touren auf Niederländisch und Deutsch. Und er korrigiert mich weiter. Er ist ein echter Charismatiker, der halbe Campingplatz sprach schon mit ihm, er nennt oft meinen Namen, was sympathisch wirkt. Aber es bleibt auch dabei: schon nach ein paar Minuten geht er mir auf die Nerven und ich will wieder weg von ihm. Charismatisch und sympathisch ist nicht dasselbe.

Notizen

Der Penny-Markt von Glückstadt. Well played!

Nebenbei: eine schöne Stadt!

Ich hab es jetzt schon von mehreren Campern an mehreren Orten gehört: Auf Campingplätzen geht nachts der Power(bank)klau um. Offenbar auch in Hamburg am Elbstrand:

Lass deine Powerbank also nicht zu sorglos über Nacht an der allgemein zugänglichen Steckdose hängen, sonst sind am nächsten Tag zwei da. Äh, ja, sind da…

Da hat also jemand die genau gleiche, drei Jahre alte Samsung-Powerbank neben meiner aufgeladen. Schon schräg.

Und hier noch ein paar schöne Schleswig-Holstein-Klischeeimpressionen: ?

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Perspektive (Etappe 16)

Wir haben noch gar nicht über Juan gesprochen, und das ist schade, denn Juan ist cool. Als Nicky, Juan und ich am Abend vor meiner Abfahrt zusammen sitzen, nachdem wir unser selbst gebrautes Bier in Flaschen gefüllt haben, sprechen wir auch von unseren Perspekiven auf das Leben.

Nach einer Weile sage ich, ich würde mich im Alltag mit zahlreichen Dingen ablenken. Denn wenn ich mal wirklich zum Nachdenken käme, würde ich feststellen, dass mein Leben ganz schön trostlos sei.

Das könnte man aber auch umdrehen, sagte Juan. Einfach sehen, was man schon alles hat und im Leben erreicht hat, wo man lebt, welche Chancen man hat, welche Freunde, welche Familie. Und dann würde man vielleicht feststellen, dass man eigentlich ein tolles Leben hat.

Manchmal nickt Juan auf seinem Stuhl ein, wenn wir uns treffen, ein bisschen was trinken und es später wird. So auch an jenem Abend. Wir scherzen vorher, dass ich noch nie jemand Betrunkenem einen Penis auf die Stirn gemalt hätte. Ich fände sowas eigentlich unangebracht, aber beide finden, dass es sich lohnt, das mal gemacht zu haben. Nicky holt mir einen Kayalstift, ich warte auf eine günstige Gelegenheit, und dann schreibe ich zur Tat.

Als Juan davon wach wird, ist er nicht etwa sauer oder schimpft, sondern lässt mich ein Foto davon aufnehmen und es ihm zuschicken. Er lobt meine Zeichenkünste und die Aktion an sich. Er rennt auch nicht gleich ins Bad, um sich das Gemälde abzuwaschen, sondern hält den Rest des Abends damit durch.

Juan ist toll!

Ich selbst bin leider noch lange nicht so gelassen, auch wenn es besser wird. Und heute ist ein Tag, wo es ohne Gelassenheit auch gar nicht gegangen wäre.

Hier einmal etwas Interaktives für euch: zwei Möglichkeiten zur Auswahl und die Frage, was ihr getan hättet. Anschließend die Auflösung, für was ich mich entschieden habe.

Gegen 0800 wache ich auf, fange schon im Zelt an, zusammenzupacken. Die frühe Morgensonne knalllt drauf, und es ist bereits so heiß, dass ich verschwitzt aus dem Zelt komme.

a) Du würdest dich ärgern, so früh schon verschwitzt zu sein und nicht vorher schonmal die Zeltwände aufgemacht zu haben, damit Luft reinkommen kann.
b) Du wolltest eh in den Waschraum und machst dich da noch mal frisch.

Was ich getan habe: b) Ich musste noch in den Waschraum, um Sonnencreme aufzutragen. Dabei spritze ich mir noch etwas Wasser ins Gesicht. Alles halb so wild.

Danach packe ich zusammen, zahle an der Rezeption, bekomme noch einen schwarzen Kaffee ausgehändigt und mag nicht so recht losfahren. Mir fehlt der Antrieb.

Die Gegend ist toll, aber der Weg ist schlecht. Sand, Kopfsteinpflaster, leichte Steigungen – manchmal auch alles gleichzeitig. Ich komme kaum voran.

a) Was für ein Ärger. Ich drehe durch!
b) Ach, alles nicht so schlimm. Brauche ich halt was länger und kann mehr Gegend sehen.

Was ich getan habe: a). Ich habe mich tatsächlich aufgeregt. Ich bin schlecht drauf und mir geht beinahe jeder auf den Sack, den ich sehe. Ich wollte heute eigentlich über Liebe bloggen, aber das Thema ist zu traurig. Deswegen doch erstmal über Perspektive und Gelassenheit.

Irgendwann erreiche ich Hamburg-Harburg. Es ist heiß, ich muss an vielen Ampeln ohne Schatten warten, ich werde überholt, ich fahre Ewigkeiten durch die Stadt. Als ich beim Elbtunnel im Aufzug kurz warten muss, tropft mir die Soße von der Stirn.

a) Es nervt, diese Hitze! Und wie ich dabei aussehe. Ich schäme mich zu Tode.
b) Ach, was soll’s. Ich sehe aus wie ein Radreisender, da ist das gesellschaftlich akzeptiert.

Ich mache mir tatsächlich wenig draus und fahre einfach weiter.

Als ich dann endlich nach 70 km Fahrt den geplanten Zeltplatz in Hamburg-Zentrum erreiche, ist der voll. Der Besitzer weist mich freundlich zum nächsten.

a) Ich könnte alles zusammentreten. Der Arsch!
b) Ach, was soll der Ärger. Damit war zu rechnen.

War es in der Tat. Der Platz hat keine Zeltwiese, sondern nur Parzellen und die sind alle weg. Zudem ist der Betreiber nett. Nur kurz bekomme ich aber ein wenig Angst, keine Unterkunft mehr zu bekommen, zumal es auf Booking.com kaum noch ein Zimmer unter 80 Euro als Alternative gäbe.

Ich rufe den nöchsten Zeltplatz an – es geht niemand ans Telefon. Ich rufe einen anderen am Elbstrand an. Nach 3 Minuten in der Warteschlange: „Klar, ich nehme Sie auf. Aber wir haben einen Strand, keine Wiese.“

Und diese Information hätte ich mir besser genau durch den Kopf gehen lassen, denn sie wird spöter noch wichtig werden.

Es sind noch einmal 16 (!) km quer durch Hamburg zu fahren. Und wie jede Großstadt auf der Tour überfordert sie mich im Moment der Durchreise. Viele Menschen, heißer Asphalt, lange Rotphasen ohne Schatten. Immerhin sehe ich durch den Umweg heute mehr von der Stadt als jemals zuvor. Auf dem Weg brauen sich Wolken zusammen. Es könnte bald regnen.

Ich erreiche gegen 1620 Uhr endlich die Rezeption, und es donnert schon im Hintergrund. Meine Pläne, heute mal ein wenig gechillt durch Hamburg zu flanieren, sind längst zerschellt. Und zu allem Überfluss haben der Vater und sein adoleszierender Sohn vor mir am Schalter alle Zeit der Welt. Sie sind mit einem Camper da, flachsen, scherzen und flachsimpeln mit dem Betreiber.

a) Diese Wichser! Keine Empathie!
b) Ach, darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an.

Ich kann mir nicht helfen: ich bin genervt. Als ich dann endlich dran bin, gibt mir der Mitarbeiter noch als Rat: besser schnell Zelt aufbauen, da kommt jetzt was!

Dem würde ich ja gerne Folge leisten, aber ich bekomme mein schwer beladenes Rad kaum durch den Sand geschoben. Meine smarte Armbanduhr verabschiedet sich mit einem Piepen (Akku leer). Und als ich mir schnell einen Platz ausgesucht habe, geht es auch sofort los. Es kommen Sturzbäche vom Himmel. Und alles über mir ist ein kleiner Baum, der kaum Regen abhält.

Jetzt schnell handeln! Das Zelt aus den Satteltaschen geholt, aufgemacht, auf den Schlamm gestellt, der sich längst gebildet hat. Das Aluminiumgestänge hat diesen Schlamm längst abbekommen. Ich muss eigentlich höllisch aufpassen, dass da kein Sand zwischen die einzelnen Glieder kommt, sonst ist das Gestänge hin. Aber ich muss so schnell machen wie ich kann, damit das Innenzelt nicht nass wird.

Und der Plan geht vollkommen schief. Am Ende ist das Innenzelt durchnässt, es bilden sich Pfützen auf dem Boden. Das Gestänge und die Enden sind verdreckt und versandet. Ich bin nass, mein Handy ist nass, mein Handtuch ist nass – alles ist nass. Meine Schuhe: total verschlammt.

a) Cool bleiben, Nerven bewahren, produktiv handeln!
b) FUUUUUUÜUUUUCK!

Es wird b). Ich schimpfe, fluche, weine beinahe vor mich hin. Aber es nützt nichts. Es bleibt mir nur die Flucht nach vorne. Ich schnappe schnell meine Waschtasche, mein Handy, mein nasses Handtuch und eine noch trockene Unterhose und springe in den Waschraum und da unter die Dusche. Nass bin ich ja schon.

Als ich wieder ins Zelt komme, tröpfelt es zum Glück nur noch ein wenig. Ich nehme einen Lappen, wische die größten Pfützen weg, passe auf, dass kein weiterer Sand ins Zelt kommt, ziehe mich schnell an und nutze die Regenpause, um alles dicht zu machen und zum Bus zu laufen. Und immerhin das gelingt. Eine Stunde später bin ich in Hamburg-City und gehe mit Mario Fisch essen.

Es wird ein tolles Wiedersehen. Und auch der Fisch ist klasse. 😉

Nach dem Treffen nehme ich die S-Bahn zurück in Richtung Campingplatz. Aber weil kein Bus mehr fährt, soll ich zu Fuß gehen. 30 Minuten!

a) Bodenlose Frechheit! Eine 2-Millionen-Stadt und dann so ein Nahverkehr!
b) Endlich mal wieder ein bisschen Spazierengehen.

Es wird b). Denn so paradox es klingt, da ich täglich draußen bin und viel Zeit zum Nachdenken habe: mir fehlt das Spazierengehen und das Gedankensortieren dabei. Es ist eine himmlich angenehm-warme Luft, und es wird ein wunderschöner Abendspaziergang.

Morgen geht es Richtung Husum. Ob schon ganz dahin (140km) muss ich mir noch überlegen. 😉 Ich komme in den letzten Tagen kaum noch vorwärts. So schön die Tour ist: ich bin dann auch ganz froh, wenn ich bald am Ziel bin und dann mal ein paar Tage kein Rad fahren muss.

Notizen

Kurzgeschichten aus der Schule, hier wiederholt:

„Nachts schlafen die Ratten doch“ (Wolfgang Borchert) -> schon nice, sehr subtil und mehrdeutig.

„Jenö war mein Freund“ (Wolfdietrich Schnurre): deutlich direkter – und herzergreifend, glänzende, kurze Erzählung.

Lese gleich zum Einschlafen mal „Die Nacht im Hotel“ von Siegfried Lenz.

Die Ladestation auf dem Campingplatz und 1 ziemlich nices Ladekabel!

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Zufällige Gespräche (Etappe 15)

Britta und Markus kredenzen ein tolles Frühstück, und ich lasse mir extra viel Zeit damit, so, als würde sich dann der Fahrradschlauch von selbst auswechseln.

Das passiert natürlich nicht, dafür schaffen wir es mit vereinten Kräften. Die ganze Familie, Britta, Markus und Mika, hilft, und der Nachbar ist so nett, uns seinen Fahrradhalter auszuleihen. Das E-Bike befestigen wir daran. Einer muss aber trotzdem noch festhalten, denn das E-Bike ist zu schwer, ein anderer den Reifen, den wir dazu auf einen Stuhl ablegen, bei dem wieder einer gegenhalten muss.

Der Vierte, ich, friemelt schließlich den alten Schlauch heraus und den neuen wieder rein. Dann wieder mit vereinten Kräften das Rad dranmoniertieren, nochmal neu justieren, weil es sich in der Bremse verfangen hat, anschrauben, gucken, ob es sich gerade dreht, festschrauben, aufpumpen, ablassen. Puh! Was ein Act!

Alleine hätte ich das ganz sicher nicht geschafft. Als Kind sollte ich mein Fahrrad immer selbst reparieren, und sehr oft ging das auch. Fahrräder heute sind hochkomplexe Maschinen geworden, bei denen du haargenau wissen musst, was du da tust, sonst machst du es alles nur noch schlimmer.

Als ich das Ventil herausoperiere, kommt es mir übrigens fast schon entgegen. Scheint, als wäre der Riss gleich da unten gewesen, und wir hatten den Schlauch gestern Morgen bei unserer Aufpumpaktion unsanft geköpft:

Als Belohnung gehen wir hinterher auf meine Kosten noch ein Eis essen. Dann muss ich auch los. Wieder ein Ort, an dem ich gerne länger geblieben wäre.

Die Fahrt wird dann wenig ereignisreich. Es geht kilometerweit am Truppenübungsplatz Munster/Bergen vorbei:

Und an der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Aber mir ist einfach irgendwie nicht danach, da reinzugehen. Hab heute einfach mal keine Lust auf Betroffenheit:

Die Landschaft ist aber schön. Sie erinnert mich an meine Heimat. Bewaldet, viel Grün, kaum Steigungen, aber durchaus windig. Ich bin heute nicht so richtig munter, mache einige Pausen und benutze viel den Motor.

Als ich an einer Tankstelle mit eingebautem Café vorbeikomme, gönne ich mir noch einen Kaffee und setze mich draußen hin, wo gerade noch eine andere Dame verweilt, die mich anspricht.

Sie käme aus der Nordheide, aber wäre durch Zufälle hier gelandet (auf halbem Wege zwischen Hannover und der Lüneburger Heide), 48 Jahre alt, seit einigen Jahren dort im Altersheim – und es wäre dort furchtbar.

Ich bin überrascht: „Das geht? Sie sind doch kaum älter als ich!“ Genauer geht sie nicht auf die Gründe ein, aber sie sagt, dass ein Altersheimaufenthalt ab 40 möglich sei. Sie kenne dort aber niemanden, die Pflege sei schlecht, die Bewohner hätten zwar immerhin Internet, aber würden alles alleine machen, sich gegenseitig misstrauen und sich regelmäßig anschreien.

Ich frage sie, warum sie da bleibe, wenn es ihr nicht gefalle und es ihr in der Nordheide kurz vor Hamburg – wie ich heraushöre – besser gefallen habe. Das wäre nicht so einfach sagt sie. Das habe mit Geld, Verträgen und der Frührente zu tun. Aber hier wären die Menschen schon sehr verschlossen.

Es entwickelt sich noch ein sehr nettes Gespräch. Sie fragt, wohin ich reise, wie das Wetter in den nächsten Tagen noch werde (gar nicht mal so gut!) und dass sie sich Sorgen um die Zukunft der Gesellschaft mache.

Das haben mir schon viele Menschen auf meiner Reise gesagt. Man sorgt sich um die Zukunft, und man spürt ein tiefes Misstrauen gegenüber den Anderen. Die meisten, mit denen ich sprach, waren aber eigentlich sehr nett und aufgeschlossen. Es muss die schweigende Masse sein, die zu Hause sitzt, auf Facebook andere Menschen anhasst, die Deutschland-Flagge hisst und AfD wählt.

Solche Gespräche mit Wildfremden sind auf meiner Reise mittlerweile das Salz in der Suppe. Es soll ja Leute geben, die nur wegen so etwas Journalisten werden. Ich habe lange Zeit genau dieses Reden-mit-Menschen immer vermeiden wollen. Aber ich spüre, dass das langsam ein Ende hat.

Meine Tour heute endet nach 95 km in Bispingen am Fuße der Lüneburger Heide am Zeltplatz. Mein Nebenzelter arbeitet zufällig als Vertriebler für E-Bike-Motor-Teile und plaudert ein wenig aus dem Nähkästchen. Er schlägt mir einen Ölwechsel der Nabe vor. Der wäre notwendig und könnte bei meiner vermurksten Schaltung noch was retten. Ja, da wäre tatsächlich Öl drin.

Ölwechsel der Nabe… Was kommt als Nächstes? Bordentertainment-Konsole im Tacho? Wie oben schon erwähnt: die Zeiten, in denen man alles mit ein paar Handgriffen selbst reparieren konnte, sind dann wohl auch vorbei.

Was seid ihr?

Habe irgendwie das Bedürfnis., nochmal alle deutschen Kurzgeschichten zu lesen, die ich damals im Deutschunterricht nicht verstanden habe. Also alle. Passt ja irgendwie auch zu einer Deutschlandreise. Lese gleich im Zelt mal „Nachts schlafen die Ratten doch“ von Wolfgang Borchert.

Morgen dann Hamburg via die Lüneburger Heide, die gerade blühen soll. Wird bestimmt schön.

Notizen

Note to self: Merino-T-Shirt nicht mehr von Hand im Waschbecken waschen. Das stinkt jetzt irgendwie wie Hulle und das hat es vorher nicht.

Übrigens stimmt es nicht, dass nasse T-Shirts am Körper in einer Stunde von selbst trocknen. Das dauert viel länger. Abends zumindest. Ich probiere es gerade aus (und stinke 20 Meter gegen den Wind).

Mika (9) hat ein Fußballspiel mit Lego authentisch nachgestellt. Inklusive selbst geklebten Werbebanden, selbst gemachter Spielfeldmarkierung, Pressefotografen, Spielertunnel, Fallrückzieher und und und. Sehr, sehr geil!

In Bispingen steht ein Haus verkehrt herum:

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Hilfsbereitschaft (Etappe 14)

Gottfried fragt mich noch einmal, was ich eigentlich genau beruflich mache und wie das eigentlich alles genau funktioniere und nennt mich danach einen „Aussteiger“. Sowas hätte er sich nicht getraut, er sei ja nur Beamter gewesen. „Ja warte mal“, sage ich: „DU hast doch ein paar Jahre in einer Kommune gewohnt – wie passt das eigentlich zusammen?“ – „Das hat wunderbar gepasst.“

Die Kommune in dem Dorf in der Nähe bestand von 1978 bis 1987, war mehr Legende als tatsächlicher Sündenpfuhl – und am Ende ziemlich harmlos. Während meine Großeltern Stoßgebete gen Himmel schickten und die Leute im Dorf sich in ihrer Fantasie wilde Orgien ausmalten, lebten am Ende nur vier Paare länger zusammen. Jedes Paar für sich in einem Flügel des gemeinsam genutzten Bio-Bauernhofs, und viel mehr eigentlich auch nicht. Auf die Kinder passte man gegenseitig auf, den Hof bewirtschaftete man gemeinsam. Tagsüber gingen einige aus der Kommune ganz normalen Jobs nach. Gottfried und noch ein anderer waren Gymnasiallehrer. Ein paar wilde Partys, eine offene Sexualmoral? Sicher, aber offenbar auch nicht mehr, als zur gleichen Zeit drüben in Chemnitz. Keine freie Liebe, keine ausgehängten Klotüren, nur ein Miteinander in einer verlängerten Familie und dazu ehrlich verdientes Geld. Eigentlich ein erstaunlich bodenständiges Konzept, seiner Zeit ein wenig voraus und heute wieder modern.

Bevor ich heute los komme, möchte ich noch einmal meinen Hinterreifen aufpumpen. Da war ohnehin schon was wenig Luft drin, und die vergeblichen Versuche, mit einer von Gottfrieds Pumpen da gestern Luft reinzukriegen, haben das alles noch verschlimmbessert (französische Ventile… ?). Aber was tun in einem kleinen Ort, in dem es kein Fahrradgeschäft gibt?

Gottfried kennt einen Kramladen ein paar Straßen weiter. Der hätte bestimmt was da. Gottls Idee ist, langsam mit dem Auto voraus zu fahren, während ich ihm mit dem Fahrrad folgen solle. Warum er eigentlich nicht selbst mit dem Fahrrad gefahren wäre, frage ich ihn hinterher. „Keine Lust gehabt.“ ??‍♂️

Die Szene hat etwas Absurdes. Im dichten Samstagsvormittagsverkehr fährt Gottl mit etwa 20 km/h vorneweg – es geht leicht bergauf, ich komme mit dem Rad kaum schneller hinterher. Aus dem Fahrerfenster gibt er mir Handzeichen für die richtige Richtung. Andere Autos überholen uns oder warten geduldig.

Am Kramladen angekommen, hat dieser natürlich Betriebsurlaub. Also weiter zur letzten Bastion: der örtlichen Tankstelle. Wir haben sogar an den richtigen Adapter gedacht. Aber der Luftdruckregler pumpt keine Luft in den Reifen.

Im gleichen Moment kommt ein älterer Tankstellenmitarbeiter vorbei und bietet uns spontan seine Hilfe an. Er organisiert eine Verlängerung, aber auch die kann nichts ausrichten. Doch aufgeben ist nicht. Der Mann bittet uns, ihm in die Werkstatt zu folgen, wo er einen alten Kompressor stehen hat.

Mit Adapter, Verlängerung und Kompressor hantieren zwei von uns schließlich an meinem Hinterreifen herum, während der Dritte das Rad festhält, weil es ja keinen Ständer mehr hat. Aber das Manometer bleibt auf null. Wir probieren es noch einmal: wieder null. Erst dann fühlt mal einer von uns den Druck am Reifen selbst: er ist voll aufgepumpt!

Oha, ob das wohl zu viel war? Wie viel Luft ist da jetzt drin? Es sieht so ganz in Ordnung aus. Wir lassen es also dabei, verabschieden uns dankend und rollen von dannen.

Nachdem ich noch ein letztes Mal kurz in den Pool gehüpft bin und wir noch einen Kaffee zusammen getrunken haben, verabschiede ich mich sehr herzlich und fahre los. Was für ein toller Onkel!

Es ist schon 1340 Uhr. Und die 24 Stunden ohne in eine Pedale zu treten, haben mir gut getan. Es geht anfangs noch ein paar steile Hügel hinauf, aber es macht mir nichts aus. Und danach geht es bis Braunschweig und danach die 50 km bis Hannover nur noch bergab.

Gegen 1600 Uhr erreiche ich Peine und gönne mir in einem Lokal ein Stück Kuchen und einen Kaffee. Ich schreibe Markus und Britta, dass ich schon im Endspurt wäre, und plötzlich beginnt es sogar leicht zu regnen. Und dann passiert etwas.

Als ich zu meinem Fahrrad zurückkehre und losfahren will, merke ich: da stimmt was nicht. Der Reifen hinten hat kaum noch Luft. Och nein, das ist jetzt irgendwie schlecht.

Schon morgens hatten sich die beiden Nachbarn meines Onkels im Spaß über mich amüsiert – nicht ganz zu Unrecht, wie ich gestehen muss. Fährt da einer einmal quer durch Deutschland und hat keine Luftpumpe dabei.

Dabei habe ich sogar extra mal eine handliche Reiseluftpumpe mit Akku gekauft, die auf Knopfdruck Luft aufpumpt. Ich habe sie zu Hause gelassen, weil ich in meiner unendlichen Weisheit dachte: ein Fahrradgeschäft mit Luftpumpe draußen findest du doch an jeder Straßenecke.

Ja, genau…

Ich frage den Besitzer des Cafés, ob er ein solches Fahrradgeschäft in der Nähe kenne. Ja, sagt der, da sei gleich eins um die Ecke. Aber es sei Samstagnachmittag und ob das jetzt noch geöffnet habe… Hat es natürlich nicht. Und eine Luftpumpe hat es draußen auch nicht stehen, als ich dort ankomme. Was nun, was jetzt tun? Ich sehe akut keine bessere Lösung als: andere Menschen um Hilfe bitten.

Und so versuche ich es zunächst bei einem älteren Ehepaar, das gerade seine genau gleich aussehenden E-Mountainbikes aufschließt. Nein, täte ihnen Leid, eine Luftpumpe hätten sie nicht dabei. Aber sie sehen unzufrieden aus darüber, dass sie mir nicht helfen konnten. Ich bedanke mich und spreche direkt die nächsten an. Ein Typ etwa Mitte 30 mit seiner Freundin, beide auf einem E-Bike. Ja, sagt der, er hätte eine kleine Notfallpumpe dabei. Müsse man zwar 200-mal pumpen. Aber immerhin. Ich nehme sein großzügiges Angebot an und sattele meine Taschen ab. In der Not frisst der Teufel Fliegen. In der Zwischenzeit kommt auch das ältere Ehepaar wieder dazu. Sie haben ein Repair-Notfallspray in der Satteltasche gefunden.

Am Ende probieren wir beides. Das Spray spuckt einen weißen Schaum aus, der Typ mit der Pumpe ist all in und pumpt selbst mindestens 150-mal, bis der Reifen sich langsam hebt und ich ihn ablöse. Seine Freundin steht abwartend abseits. Sie hatten etwas Besseres vor, das sehe ich ihr an. Dass sie mir trotzdem helfen: unbeschreiblich!

„Ich würde jetzt direkt zum Bahnhof fahren“, sagt der hilfsbereite Mann mit der Pumpe. „Das hält bestimmt nicht lange, und beim nächsten Mal stehst du irgendwo in der Pampa“. Ich weiß, dass er natürlich Recht hat. Aber ich will so schnell noch nicht aufgeben. Ich bedanke mich bei allen von Herzen und gebe dem älteren Ehepaar 10 Euro als Ersatz für Ihr Notfallspray. Dann lade ich mein Zeug wieder auf und suche auf Google Maps nach Geschäften.

Ich weiß, dass Kaufland eine Fahrradabteilung hat, und siehe da: in 3 km Entfernung gibt es eine Filiale. Ob der Reifen wohl so lange noch hält? Auf dem Weg dahin komme ich an einem weiteren Fahrradgeschäft vorbei, das natürlich auch geschlossen hat.

Bei Kaufland angekommen, sehe ich, dass der Reifen beinahe schon wieder platt ist. Aber die Luft hat gerade noch gereicht. Im Laden shoppe ich eine Doppelhub-Luftpumpe und ein weiteres Notfallspray. Draußen sprühe ich den Rest in den Reifen und pumpe mit mindestens 200 Stößen den Reifen noch einmal auf – und bin guter Dinge: das könnte mit etwas Glück die 40km bis Hannover halten. Ich kündige mich bei Markus und Britta an und fahre los.

Genau 2 km später muss ich einsehen: es geht nicht. Der Reifen ist schon wieder platt. Und das Ventil nimmt jetzt gar keine Luft mehr an. Ob wir das am Morgen in der Tanke mit unseren zahlreichen Versuchen geschrottet haben? ???

Jetzt bleibt mir nur noch als Option, den Schlauch zu wechseln. Einen solchen habe ich tatsächlich eingepackt, Notfall-Schlüsselset und Mantelheber auch. Also eigentlich alles dabei. Aber verflucht: ich bekomme mit dem kurzen Hebel des Notfallwerkzeugs die Reifenmutter nicht gelöst. Und ich erinnere mich: die hatten die Jungs in dem Fahrradladen in Karlsruhe extra fest angezogen, damit sich der Bremsschlitten nicht mehr mitbewegt. Na klasse.

Ich gebe auf und beschließe, dann doch den Zug zu nehmen – wohl wissend, dass ab jetzt Murphys Law greift. Alles was schief gehen kann, geht jetzt auch schief: Der Bahnhof ist 2,5 km entfernt. Ich muss schieben und so verpasse ich die erste mögliche Bahn. Die zweite würde eine halbe Stunde später fahren, aber fällt aus. Nächste Fahrt erst eine Stunde nach der ersten. Und so schiebe ich zum Bahnhof, komme wie zum Hohn noch einmal an einem längst geschlossenen Radgeschäft vorbei und dann 50 Minuten vor dem nächsten Zug am Bahnhof von Peine an. Es fallen mehr Züge aus als noch kommen, also ist klar: den nächsten muss ich erwischen:

Aber was soll ich mich da jetzt aufregen, denke ich. Ändern kann man ja eh nichts. Ich beschließe, die Wartezeit schon einmal mit einem Bier zu verkürzen und mit Markus schon einmal fernzuzuprosten. Und so schiebe ich mein Rad vor eine Bahnhofskaschemme der Art, in die ich normal niemals gehen würde, und gehe rein:

Es gibt Spielautomaten, zwielichtige Gestalten, eine tätowierte Mutter Oberin, Volbeat aus der Lautsprecheranlage – und regionales Bier für gerade mal 1,50 Euro die Flasche. Na also, gar nicht schlimm da! Zumal es eine Terrasse gibt, auf die ich mich setzen und die ähnliche Zusammensetzung im Laden gegenüber studieren kann:

Wenig später auf dem Bahnsteig geselle ich mich zu dem einzigen Ehepaar, das außer mir noch mit Fahrrädern unterwegs ist, und wir smalltalken kurz, etwa darüber, wo wohl das Fahrradabteil sein wird (note to my future self: meist am Anfang und Ende eines RE). Klar ist auch: ich muss in den Zug jetzt irgendwie rein. Denn der nächste kommt erst in zwei Stunden – vielleicht.

Und es kommt, wie es kommen muss: die Bahn rollt ein, wir stehen vorne, und vor dem Fahrradabteil ist die Tür defekt. Wir wollen es über die Nebentür versuchen, doch die Schaffnerin hält uns auf: nein, leider nicht erlaubt. „Aber wir könnten doch da eben durch…“ Nein, leider nicht erlaubt. Ich beginne zu diskutieren. Dass dies der einzige Zug in drei Stunden sei, der nach Hannover fährt und dass die Deutsche Bahn ein Sau… Ja, täte ihr Leid, aber nichts zu machen. Ich könne es nur am anderen Ende des Zuges noch versuchen.

Das Ehepaar ist längst auf dem Weg dorthin, und ich sprinte hinterher – so gut das mit einem schwer beladenen E-Bike mit einem Platten eben geht. Das Paar hilft mir. Der Mann fährt vor und öffnet, die Frau stellt sich in die Tür, damit ich es noch hinein schaffe. Die Menschen in diesem komischen Land können unfassbar hilfsbereit sein, wenn man sie nur mal lässt – und wenn man dabei nicht wie ein Penner aussieht.

Und wir haben Glück. Das hintere Fahrradabteil ist noch fast leer. Wir finden alle einen Platz für unsere Räder.

Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Denn ich komme mit dem etwa gleichaltrigen Typen ins Gespräch, der mir gegenüber sitzt und dem Ehepaar und mir ein Fisherman’s Friend Lemon anbietet. Sie lehnen ab – ich nehme an. Die Dinger mag ich zufällig. 😉

Und der Typ ist schräg.. Auch er hat ein Fahrrad hinten stehen. Auf meinen Hinweis, dass das gerade umgefallen sei, winkt er ab: „Ist ja nur ein Gegenstand, weißt du, und da wird sich schon einer drum kümmern.“ Und so ist es dann auch. Ein weiterer Radfahrer, der als letzter kam und daneben sitzt, nimmt sich das Fixierseil und befestigt das Rad meines Gesprächspartners an der Zugwand. Problem tatsächlich gelöst.

Aber weiter geht’s. Er würde nur nach Hannover fahren, weil er da abends gut nackt baden und sich einen durchziehen könne. Aha. Nein, kein Gras, nur Haschisch, eine bestimmte Sorte, die sie in Holland für 8 Euro das Gramm verkauften, den Bauern in Marokko aber nur 8 Cent dafür zahlen würden. Deswegen hätten die auch alle einen solchen Hass auf uns. Und auf die Schweiz sollte man ein paar Wasserstoffbomben werfen. Hätten die verdient.

Das alles klingt mir halb im Scherz gesagt, und irgendwie mag ich den Typen. Und so tue ich, was ich mir ein paar Tage zuvor als Grundsatz notiert habe, und lasse ihn einfach weiter reden ohne zu werten. Dadurch erfahre ich noch, wie er es sich als Fünfjähriger – angeblich – einmal eine Stunde lang in Schloss Neuschwanstein im Königlichen Schlafgemach auf der Matratze bequem gemacht hatte. Seine Eltern hätte er erst angeblich später auf dem Parkplatz wiedergetroffen, gemerkt hätte es keiner. Und wie er seine Eltern auf der gleichen Reise in Bern einmal verloren habe. Sonderbare Eltern, denke ich. Rührt daher sein Hass auf die Schweiz?

Das Ehepaar neben uns denkt sich seinen Teil und sagt nichts. Der Typ und ich amüsieren uns die 25 Minuten Fahrt nach Hannover köstlich.

Markus holt mich schließlich am Bahnhof ab, und wir schieben zusammen Richtung List. Markus, Britta und Mika haben mir noch reichlich zu essen übrig gelassen, und es wird noch ein gemütlicher Abend auf dem Balkon.

Wir reden über die Schulzeit. Markus und ich waren in der Oberstufe dicke Freunde und sind es eigentlich noch immer, aber ansonsten war ich damals sehr froh, das Abi geschafft zu haben und aus dem Ganzen herauszukommen. A propos: In ein paar Wochen wäre 25-jähriges Jahrgangsnachtreffen, sagt er. Und ich weiß das sogar. Würde ich kommen? Nein, sage ich, zu viele unliebsame Erinnerungen. Er nickt. Das könne er gut verstehen.

Morgen gilt es, irgendwie den Schlauch auszuwechseln und ein Stück weiter in Richtung Hamburg zu fahren. Sollte doch eigentlich möglich sein, hoffentlich. Passenderweise haben auch sie ein Fahrradgeschäft direkt gegenüber, aber morgen ist ja Sonntag…

Was für ein Tag! Eigentlich ist es mir immer am liebsten, wenn alles reibungslos funktioniert. Aber dann hätte ich nicht einmal die Hälfte zu erzählen…

Notizen

In Braunschweig ist CSD:

Und paar hübsche Ecken gibt es da auch:

Und dann sogar auch in Hannover:

Seriously, Deutsche Bahn? Klar, jeder hat gerade das 9-Euro-Ticket, aber der reguläre Preis von Peine nach Hannover wären wirklich über 100 Euro?! Für 25 Minuten Fahrt im RE?!

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Nightswimming (Etappe 13)

Die Nacht im Wald ist erstaunlich ereignisarm, aber kurz. Um zwei Uhr wache ich einmal auf. Es ist kalt, ich murmele mich stärker ein. Einmal kommt irgendein Tier nah an mein Zelt. Ich verscheuche es, indem ich übertrieben laut gegen die Zeltwände schlage. Ab kurz nach 5 bin ich im Halbschlaf. Ko.mmt da einer um die Ecke? Nein, es sind doch nur irgendwelche Vögel oder Feldmäuse, die Geräusche machen.

Um 0600 stehe ich auf. Ich habe die Nacht wildcampen schadlos überstanden, und viel mehr gibt es zu dem kleinen Abenteuer kaum zu sagen. Bin ich jetzt als ganzer Mann aufgewacht? Wird sich wohl erst später zeigen. Ich packe zusammen, rolle um 0715 los. Etwa 3 km von der Zeltstelle kommt mir auf einem Feldweg eine Frau auf einem Fahrrad entgegen. Sie ist der erste Mensch, den ich seit fast 12 Stunden sehe.

Bevor ich den Osten der Republik verlasse, sehe ich in Oschersleben die Werbung für eine Ostalgie-Kantine in 900m Entfernung und fahre spontan dahin. Die Aufmachung des Freilichtmuseums ist schon draußen so authentisch, dass ich zwei Typen, die vor dem nachgeahmten Grenzposten stehen, frage, ob sie mich reinlassen. Tun sie natürlich, denn sie arbeiten gar nicht dort.

Es dauert ein wenig, bis ich die eigentliche Kantine gefunden habe. Ich frage die Bedienung hinter der Theke, was man hier so isst oder eher: früher gegessen hat, und bekomme ein Brot mit Spiegelei, ein Kännchen Kaffee und zwei Brötchenhälften mit Camembert und einer aufgeschnittenen Bulette. Sieht wirklich toll aus vor der Kulisse mit dem vollen Aschenbecher, den Figuren aus dem Erzgebirge und dem Konterfei von Ernst Thälmann an der Wand…

Die anderen Gäste sehen zum Teil so aus, als gehörten sie zum Inventar und würden sich die DDR zurückwünschen. Und ganz ehrlich, auch wenn es mit den Ohren eines „Wessis“ unlogisch klingt: nach allem, was ich im Osten gesehen, was ich in der kurzen Zeit erlebt habe, werde ich sie nicht dafür verurteilen.

Meine Beine sind inzwischen so schlapp, dass ich fast den ganzen Vormittag über mit Motor fahre. Mir tun die Knie weh, die Vorderbremse schleift. Ich kann einfach nicht mehr. Der halbe Tag Pause heute ist mittlerweile auch dringend notwendig.

Gegen 1230 erreiche ich Schöppenstedt, gegen 1330 Uhr habe ich die Lampe an. Gottfried schlägt vor, dass wir direkt Aperol-Spritz gegen die Hitze trinken, und ich habe nichts dagegen. Heute soll Pool-Tag sein.

Nach der Begrüßung und den zwei Aperol-Spritz beschließen wir, erstmal jeder für sich ein Nickerchen einzulegen und uns später am Pool wiederzutreffen. Ich stelle vorher noch schnell eine Maschine an und falle in einen traumlosen Schlaf, aus dem ich erst zwei Stunden später wieder aufwache.

Nach der ersten Poolsession schrauben wir an unseren Fahrrädern herum – ich umwickle die Schutzblech-Halterung vorne neu mit Panzertape und tausche die Bremsklötze vorne aus, die ich schon seit Bayern mit mir herumtransportiere. Die eigentlich leicht defekte Vorderbremse hat tatsächlich noch 500km durchgehalten ohne zu murren.

Gottfried spricht nebenbei einem Schornsteinfeger auf den Anrufbeantworter: „Eine meiner Frauen von früher steht bei Ihnen noch mit im Adressfeld. Könnten Sie die bitte rausnehmen?“ Gottfried ist zum dritten Mal verheiratet.

Abends essen wir Erbsensuppe (Vitamine!) und reden bei einem Glas Ramazzotti über die Familie und wie sich manche Charaktereigenschaften über Generationen hinweg weitervererben.

Es ist schon fast Mitternacht und beinahe Schlafenszeit, als wir beschließen: wir hüpfen noch einmal in den Pool! Nightswimming quasi, denn wir haben beide nichts dabei an.

Nach 3 Minuten im immerhin noch 28 Grad warmen Wasser stellen wir fest: Schön, dass mal gemacht zu haben, aber reicht dann auch schon. Ab in die Kiste. Morgen geht es weiter nach Hannover. Noch einmal eine etwas kürzere Etappe. Und danach hoffentlich mit neuer Vollkraft zum Endspurt Richtung Sylt.

Gottl hatte sich drauf eingestellt, dass ich 3-4 Tage bleibe. Jetzt wird es nur einer. Das ist schon ein großer Nachteil an einer solchen Reise: ich habe nur drei Wochen, rausche so durch und komme kaum mal mit den tollen Menschen unterwegs länger in Kontakt…

Was mir vom Osten in Erinnerung bleiben wird:

  • Die Leute grüßen eher seltener als in Bayern oder Niedersachsen
  • Gucken sogar eher weg als dich an, wenn sie dich sehen
  • Teilweise richtig schlechte Wegstrecke, teilweise richtig gute
  • Mit den Logos regionaler Fußballvereine (meist Drittligisten) verzierte Stromkästen an beinahe jeder Ecke. Fast so, als erfülle der Verein die Funktion der Identitätsbildung.
  • Steppenartige Landschaft
  • Teils wunderschöne Gegenden: überrascht haben mich die Saalelandschaft, das Vogtland und Chemnitz
  • Wann immer ich dann doch direkten Kontakt mit den Locals hatte, dann waren es sehr nette, geradlinige Leute.

Notizen

Nein!

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Wild Campen (Etappe 12)

Soso, der Herr Aventurer will sich immer nur ins gemachte Nest legen. So läuft das aber nicht!

Ich stehe spät auf und packe dann erstaunlich schnell zusammen. Trotzdem: Vom Moment des Aufwachens bis zum Moment des Losfahrens liegt bei mir immer etwa 1:10h.

Was ich heute auch tue, ich komme nicht so richtig in den Tritt. Ich schleppe mich durch, mache viele Pausen, genieße aber auch die Landschaft entlang der Saale. Sie ist teils herrlich grün, teils komme ich mir vor wie in der Steppe des Mittleren Westens. Es hat seit Wochen kaum geregnet, Autos auf Feldwegen wirbeln Staub auf, die Gegend ist völlig ausgetrocknet. Zwar ungewohnt aber auch irgendwie interessant.

Würde hier ein Strauch durch die Gegend wehen – man wäre auch nicht überrascht.

Und dann beschließe ich, wild zu campen.

Eigentlich wollte ich das schon die ganze Reise über mal tun, vor allem in Bayern, aber da haben die ein besonderes Auge drauf, letztendlich hat sich die Gelegenheit nicht ergeben und vielleicht war auch einfach die Zeit noch nicht reif. Jetzt ist sie es irgendwie schon.

Klar wird mir das Ganze eigentlich erst, als ich nach 125 km Tour heute um 1930 Uhr vor dem geplanten Zeltplatz an einem See nahe Staßfurt stehe. Eine ältere Dame ist so nett, mich auf dem Rad dahin zu begleiten, auch wenn ich sie kaum verstehe. Sie nuschelt noch mehr als ich. Es ist eine ganze Seenplatte hier, und ich denke mir: wäre doch gelacht, wenn sich da kein Plätzchen fände. Und falls nicht, gehst du halt zurück zum Zeltplatz.

Aber das Umrunden der Seenplatte ist weniger ergiebig als gedacht. Überall sind Fußgänger, Angler, es stehen Zelten-verboten-Schilder, die ich natürlich beachte. Oder die Seen sind Tümpel, an denen es von Mücken wimmelt. Nee, dann lieber nicht.

Als ich endlich nahe einem Feld plötzlich einen Fleck entdecke, der sich ziemlich gut zum Zelten eignen würde, habe ich meinen Schwung längst verloren und beschlossen, zum offiziellen Campingplatz zurückzukehren.

Der Weg dahin führt aber plötzlich 2 Meter recht steil runter in einen ausgetrockneten Graben und auf der anderen Seite mindestens genauso steil wieder hoch. Runter geht es einfach, aber mit meinem schwer beladenen Rad und über den staubigen Boden komme ich auf der anderen Seite nicht mehr rauf. Ich stecke schließlich im Graben und komme weder vor noch zurück. Fluchend lade ich meine schwere Reisetasche ab. Vorwärts ist es aber immer noch zu steil. Ich schaffe es nur noch zurück, und komme wieder an das Fleckchen, das sich ideal zum Zelten eignen würde. Na, wenn das mal kein Zeichen ist!

Also beschließe ich kurzerhand da zu bleiben und es zu tun: wild campen! Es ist noch etwa eine Stunde bis Sonnenuntergang. Der Trampelpfad, neben dem ich zelten möchte, ist abgelegen und doch recht ausgelatscht. Aber in der Nacht wird hier keiner mehr vorbei kommen, da bin ich mir sicher. Dann eher früh morgens ein paar Frühsportler, Gassigeher oder ein Bauer. Ich sollte also nicht zu spät wieder aufbrechen.

Bevor ich mein Zelt aufschlage, gehe ich den Weg zu Ende, den ich mit dem Rad nicht geschafft hatte. Etwa 200 Meter hinter meinem Platz liegt ein See. Es ist die Rückseite desselben Sees, auf dem sich der Campingplatz befindet. Eine Senke führt hinab, das Wasser ist klar. Da ist niemand weit und breit. Ich hätte nicht übel Lust, mich auszuziehen und spontan reinzuspringen. Und dann tue ich das einfach:

Ich habe schon mal wild gecampt. Als Teenager mit zwei Freunden oder vor ein paar Jahren im Autocamper in Schweden und Nordnorwegen. Aber noch nie alleine im Zelt, geschweige denn allein im Wald.

„Wenn du ein ganzer Mann werden willst, ist eine gute Übung, einmal eine Nacht alleine im Wald zu verbringen!“

Fragt mich nicht mehr, in welchem YouTube-Video oder Lebenshilfe-Buch ich den Spruch aufgeschnappt habe. Aber er ging mir nicht mehr aus dem Kopf.

Tja, was definiert einen ganzen Mann? Was davon bin ich nicht, und muss ich überhaupt einer sein? An mir aufgefallen ist mir, dass ich schon oft den bequemen Weg gehe, deutlich harmoniebedürftiger bin als andere Männer, häufig unsicher bin und alles, was ich tue sehr oft hinterfrage. Das sind Dinge, die mich selber auch stören. Kuriert man das mit einer Nacht im Wald? Na ja, das alleine wird wohl nicht reichen. Aber schaden kann es schon nicht und ausprobieren wollte ich es schon immer mal. Also jetzt.

Ich baue mein Zelt auf und stelle es so hin, dass es zumindest nicht auf den allerersten Blick erkannt werden kann. Der Platz liegt am Waldesrand neben einem Feld. In etwa einem Kilometer Entfernung liegt eine kleine Behausung. Vor Sonnenuntergang checke ich noch einmal die Zufahrtswege. Ich treffe niemanden an, nur am See höre ich in einigen hundert Metern Entfernung noch eine andere Gruppe. Aber sie und mich trennt der Graben. Sie haben eigentlich keinerlei Grund, hierhin zu kommen.

Bevor ich mich zum Schreiben dieser Zeilen vors Zelt setze, drehe ich noch eine Runde. Es ist wunderschön hier, dazu ein traumhafter Sonnenuntergang. Ein Schwarm Vögel zieht über mir her. Als sie eine Kurve fliegen, klingt es, als würde ein Pfeil abgeschossen. Zwei Rehe hoppeln kreuz und quer über den Weg und scheinen mich gar nicht wahrzunehmen. Ansonsten bin ich alleine mit mir und meinen Gedanken.

Mein Vater war ein großer Naturfreund, mehr noch als ich. Meine Eltern waren mit uns Kindern immer in Bayern oder in Österreich – während meine Freunde mir Postkarten von Mallorca, Rhodos oder Teneriffa geschickt haben. Wir sind durch Wälder gewandert und haben aus Gebirgsbächen getrunken, gar nicht weit von der Stelle, an der ich neulich im Fichtelgebirge entlang geradelt bin.

Damals fand ich das schrecklich uncool und eintönig. Heute denke ich: war doch eigentlich sehr schön und sowieso viel mehr mein Ding. Das merke ich jetzt. Als ich dann Jahre später mal mit Freunden einen Strandurlaub auf Mallorca gemacht habe, habe ich mich schrecklich gelangweilt, mir am dritten Tag ein Fahrrad gemietet und bin damit nach Palma gefahren. Tja….

Kristine war die letzte Frau, die ich wirklich geliebt habe. Mir fallen gleich auf Anhieb 20 gute Gründe ein, warum wir nicht gut zusammen passen und es gut war, dass wir uns getrennt haben. Aber es ändert nichts daran. Liebe muss nicht logisch sein, ich vermisse sie immer noch. Und es tut gut, dieses Eingeständnis hier aufzuschreiben. 🙂

Während ich diese Zeilen schreibe, ist es Nacht geworden. Aber ganz dunkel ist es nicht, es ist Vollmond. Die Sicherheitsleuchten der zahlreichen Windräder in der Gegend (der moderne Ersatz für Kohleschornsteine) leuchten in der Ferne. Es hat bestimmt noch 22 Grad; es ist deutlich wärmer als in den Nächten davor. Grillen zirpen, es duftet nach Heu. Im Gebüsch raschelt es. Gerade kam ein lautes Brummen aus dem Wald, das wie von einem Wildschwein klang. Aber nur ein vorbeigehender Mensch würde mir gerade wirklich einen Schrecken einjagen.

Dann mal ab ins Zelt jetzt, irgendwie mit Gottvertrauen die Nacht durchstehen und als ganzer, entschlussfreudiger Kerl wieder aufwachen.. 🙂 Wird schon werden.

Mittlerweile weiß ich, was mich gestern getriggert hat. Manu und ich saßen in einem Straßencafe und wollten Neuigkeiten austauschen, als der Typ, der neben uns saß, einen alten Freund erspäht hatte, der gerade vorbei ging. Die beiden sind sich lautstark in die Arme gefallen und haben minutenlang ihr Wiedersehen gefeiert – keinen halben Meter von meinem Kopf entfernt.

Was macht man in so einem Moment? Ich hätte sie bitten sollen, sich einfach kurz hinzusetzen und am Tisch weiter zu reden. Aber ich wollte auch ihren Moment nicht zerstören. Statt dessen habe ich versucht, dagegen anzureden und bin irgendwie in eine Tonlage geraten, die mir gar nicht liegt, die ich aber ab da nicht mehr abgestellt bekommen habe. Und das hat dann diesen unguten Automatismus in mir ins Rollen gebracht. Interessant und gruselig zu gleich, wie so etwas entstehen kann.

Bin ich auf einer Tour angekommen, verlaufen die Tage meist ähnlich. Wenn auch anders als bei den letzten Malen. Ich hole mir morgens irgendwo einen Kaffee, esse meist 1x in einer Dönerbude oder, wie heute, beim Thailänder eine kleine Mahlzeit und falle am Nachmittag irgendwann in einen Supermarkt ein, Discounter bevorzugt. Denn die haben ein Regal mit frischen Backwaren, die ideal für eine Mahlzeit sind. Dazu kaufe ich Snacks, oft Eiskaffee aus dem Kühlregal oder einen to go, Und in letzter Zeit viel Mineralwasser, denn hier im Osten haben sehr viele Friedhofsbrunnen (wo ich sonst normal Wasser wieder auffülle) kein Trinkwasser.

Es ist auf jeden Fall praktisch, wie gut das Netz von Lebensmittelmärkten beinahe überall in Deutschland ist. Klar hast du nur die Wahl zwischen Penny, Netto, Aldi, Lidl, Edeka, Rewe und vielleicht mal Norma. Aber du bekommst darin zum günstigen Preis alles, was du an Lebensmitteln brauchst. Man mag den alten Tante-Emma-Läden hinterhertrauern, aber ich halte das durchaus für eine echte Errungenschaft.

Morgen soll es eigentlich „nur“ schnell die 80 km zu Gottfried (meinem Onkel) in Schöppenstedt gehen. Die würde ich am liebsten schon morgens abreißen, den Nachmittag im Pool verbringen und wenigstens mal 1/2 Tag Pause machen. Aber jetzt spricht Komoot plötzlich von einer schweren Tour. ?

So, die Mücken fallen über mich her, die Geräusche nehmen zu, ich fange an Gespenster zu sehen. Schnell ins Zelt! 🙂 Gute Nacht!

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Neusee(n)land (Etappe 11)

Es wird der erwartet schlappe Tag. Ich schlafe lang, dann haben mich Kerstin und Holger noch zum Frühstück bei sich eingeladen. Wir klönschnacken bis beinahe 12, dann finde ich, dass ich doch mal Richtung Leipzig losrollen sollte. Natürlich nicht, ohne mir vorher die Chemnitzer Innenstadt angeschaut zu haben:

Doch, Chemnitz ist weit hübscher als gedacht!

Die Etappe heute ist eine der einfachsten. Nur 80 km und bloß zwei nennenswerte Steigungen. Aber mein Akku scheint nach den zwei Bergetappen völlig leer.

Noch dazu kämpfe ich mit der Allergie. Meine Nase ist zu und ich fühle mich, als wäre ich von der Bergbahn überfahren worden. In einem kleinen Ort namens Lunzenau gönne ich mir ein Eis, einen Kaffee und werfe mir bei der Gelegenheit auch eine Loratadin ein. Als ich dabei zufällig mein Spiegelbild am Tresen sehe, erschrecke ich fast: Ich sehe aus, als hätte ich Drogen genommen. Liegt das wirklich an den drei Bieren gestern oder bin ich neuerdings auch gegen Ambrosia oder Beifuß allergisch?

Als es danach den Berg rauf geht, schmerzen mir die Knie und Beine…

Es wäre wohl mal Zeit für einen halben Tag Pause. Ich spekuliere auf übermorgen bei meinem Onkel im Pool. 🙂

Es ist dann 1730, als ich auf dem Zeltplatz am Markkleeberger See ankomme, etwa 10 km südlich von Leipzig. Steht da Neuseeland auf dem Schild?! Ach so, Neuseenland. Aber bestimmt fast genauso schön…

Der Platzbetreiber steht direkt draußen vor der Rezeption, als ich komme, und er flachst: „Du willst nicht dass ich mich endlich mal hinsetzen kann, hm?“ Er hat sich gerade ein Bier aufgemacht, erklärt mir kurz die Details und schließt mit den Worten: „Und dann bekomme ich von dir nen Zehner. Normal 12,50, aber…“ – guckt rüber zu seinem Bier – „gibst mir 10 Euro und es passt.“

Mit dem Rad fahre ich nach Leipzig rein, wo ich Manu treffe. Wir essen was, reden über die alten Zeiten (haben zusammen studiert), und ich bekomme sogar noch eine kleine Stadtführung. <3

Aber irgendwie triggert das was in mir. Mein ganzes, neu gewonnenes Selbstbewusstsein verpufft mit einem Mal. Dabei habe ich durchaus schon was erreicht, nicht nur hier auf der Reise, auch in meinem Leben. Fast die Hälfte der Strecke liegt hinter mir. Und auch den Aldi-Äquator habe ich überschritten. Warum mache ich mich immer so klein dabei?

Aldi-Nord-Gebiet erreicht.

Abends zurück auf dem Platz komme ich im Waschraum mit einem anderen Camper ins Gespräch. Anfangs verstehe ich nur die Hälfte, denn er sächselt stark. Später wird es etwas besser. Er erzählt mir von seinem Job in einem Flüchtlingsheim und wie ausgebrannt er sei. So sehr dass er es manchmal sogar an den Heimbewohnern auslasse, was er eigentlich nicht wolle.

Was an dem ganzen System schief laufe? Die Vernünftigen, die eigentlich wirklich Grund hätten, hier zu bleiben, weil sie wegen Hunger, Krieg oder aus politischen Gründen geflüchtet sind, könnten und würden oft schnell wieder abgeschoben. Diejenigen, die er unsanft als Drogenhändler, Vergewaltiger, Einbrecher etc. bezeichnet, dürften bleiben.

„Und wie das?“, frage ich? Wer straffällig wird, bekomme einen Prozess, sagt er, und könne in der Zeit nicht abgeschoben werden. Und solche Prozesse könnten sich ziehen. Wer dann in der Zeit noch einmal straffällig wird, bekommt noch ein Verfahren und nutzt das aus. Ein klarer Fehler im System, und diese Ungerechtigkeit halte er nicht mehr aus. Zumal diejenigen ihre Rechte genau kennen würden.

Neulich hätte sein alter Chef bei ihm geklingelt. Einfach so, wäre gerade in der Gegend gewesen, wollte mal hören, wie es ihm so gehe und ob er nicht zurückkommen wolle in den Handwerker-Job. So kommt der Fachkräftemangel auch ihm zu Gute, auch wenn sich am System dadurch natürlich nichts ändern wird.

Mit etwas Glück wird die Nacht heute nicht so kalt, ziemlich sicher aber laut. Direkt hinter meinem Zelt gehen eine Straße und eine Buslinie lang, um die Ecke noch eine, man hört die Autobahn in ca. 500m Entfernung und, ach ja, Einflugschneise scheint auch noch zu sein. Meine mitgebrachten Ohrstöpsel werden Premiere feiern. Ich murmele mich ein und träume von Neusee(n)land.

Notizen

Leipzig hat richtig schöne Ecken:

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Chemnitz (Etappe 10)

Wieder eine bitterkalte Nacht. Das darf doch eigentlich nicht sein. Wir haben Hochsommer! ?

Ich fürchte nur, für 10 Grad Nachttemperatur und leicht darunter ist meine Ausrüstung gar nicht ausgelegt. Der Schlafsack hält keinerlei Kälte ab, das Zelt lässt jeden Windstoß durch und wird schnell auch innen nass, und zu allem Überfluss wird die Luma die Nacht über dünner. Dabei war ich extra mit ihr im Ammersee, um zu prüfen, wo sie Luft verliert. Nichts gefunden.

Nachts um 2 wache ich auf, fröstelnd, befreie mich aus dem Schlafsack, puste noch was Luft in die Luma, ziehe zwei Pullover und lange Hosen übereinander an und versuche es so nochmal. Warm ist es nicht, aber so geht es gerade.

Um 7 klingelt der Wecker, aber es ist noch dunkelgrau auf dem Zeltplatz. Hey, so läuft der Deal nicht! Wenn schon kalte Nacht, dann morgens wenigstens Sonnenstrahlen bitte! Ich warte noch eine Viertelstunde, bis die dann endlich um die Ecke kommen, lasse mich kurz aufwärmen, dann stehe ich auf, mit gemischten Gefühlen.

Denn gestern war schon hart, aber heute kommt sie, die eigentliche Königsetappe. 118 km bergauf und bergab, noch länger, noch hügeliger, noch stärkere Gefälle. 😉

Aber gut, nit lamentieren. Stier bei den Hörnern packen! Ich bestelle mir einen Kaffee an der Rezeption, lasse mein Zelt und meine noch nicht ganz getrocknete Wäsche noch ein wenig in der Sonne baden. Um 0915 geht es los.

Ich plane, extrem sparsam zu fahren heute, den Akku nur einzuschalten, wenn es gar nicht mehr anders geht. Der Vorsatz hält genau bis zum ersten Hügel, den ich ohne Motor nicht hinauf schaffe. Ächz!

Aber kaum habe ich die bayerische „Staatsgrenze“ Richtung Vogtland verlassen, wird die Gegend noch einmal richtig hübsch. Weite Felder, kleine Bäche, Talsperren, hügelige Landschaft. Teils urige Altbauten aus (Vor-)DDR-Zeiten, teils moderne Neubauten.

Besonders gut gefällt mir dann das Erzgebirge. Alter Bergbauern-Charme:

Oder die charmanten Ortsnamen:

Nur die Strecke ist wie erwartet Hardcore. Sehr viel Steigung anfangs, und weil ich nicht genau ausrechnen kann, was da noch kommt, fahre ich die erste Hälfte der Strecke ohne Akku, wo es nur geht. Es gibt in der Tat viele Steigungen. Ähnlich wie gestern, nur heute insgesamt noch mehr Weg. Kaum eine Abfahrt genossen, schon geht’s wieder rauf. Dazu oft eine schlechte Wegstrecke und Gegenwind.

Zum Schluss immerhin habe ich genug Akku übrig, um den Rest entspannt angehen zu lassen. Ein top ausgebauter Fahrradweg, auf dem es zudem noch bergab geht, ist mit vergönnt. Ich kann die letzten 15 km immerhin völlig ausrollen lassen. Aber ich bin auch froh, mein persönliches Alpes d’Huez jetzt hinter mir zu haben.

Versöhnt werde ich mit dem Besuch bei Holger und Kerstin in ihrem kleinen „Freistaat“, einer Insel in Mitten einer alten Bergarbeiter-Siedlung von Chemnitz.

Ich habe Holger vor zwei Jahren bei meiner Radreise durch die Schweiz kennengelernt. Wir hatten wegen des angekündigten Regens beide eine Pension in Hospental genommen und abends etwas zu essen bestellt. Es war mitten im ersten Corona-Sommer, noch vor den ersten Impfungen, und das Essen sollte drinnen serviert werden. Ich tat etwas, was ich selten tue: Ich machte Aufhebens und bat, das Essen draußen auf der Terrasse essen zu dürfen. Ich hätte zu viel Angst vor den Aerosolen, die Covid übertragen könnten. Die Herbergsmutter sah verblüfft aus, aber ließ mich meinen Teller mit nach draußen nehmen, obwohl es dort langsam anfing zu nieseln. Draußen traf ich Holger, der sich nach seiner Etappe gerade ein Bier aufgemacht hatte. Wir verstanden uns auf Anhieb.

Später blieben wir in Kontakt und schrieben uns immer wieder, wenn einer von beiden gerade unterwegs war. Am nächsten Morgen übrigens hatte mir die Herbergsmutter für das Frühstück einen Platz direkt an der geöffneten Eingangstür gedeckt. ? Holger kam dazu und wir tauschten uns über unsere noch geplanten Etappen aus.

Meine Freude war also groß, als ich Holger nun endlich wiedersah und seine Frau Kerstin kennenlernte. Beide haben über die Jahre ein eigenes Fotostudio in Chemnitz aufgebaut. Das tolle Haus und den gemütlichen Garten haben sie sich selbst angelegt und ausgebaut. Neueste Errungenschaft ist ein Pool, derzeit arbeitet Holger daran, eine Gartenhütte zur Sauna umzufunktionieren. Es wirkt in der Tat fast wie ein eigener Freistaat.

Ich werde im Gästezimmer einquartiert, kann mich etwas frisch machen, bevor ich zum Abendessen eingeladen bin. Es gibt einen herrlichen, vegetarischen Currytopf. Beide essen kaum noch Fleisch, sagen sie.

Beim anschließenden Lagerfeuer kommen wir auf Ihre Geschichte zu sprechen. Kerstin und Holger sind beide in Chemnitz aufgewachsen und haben sich noch zu DDR-Zeiten in der Schule kennengelernt. Während Kerstin sich schon früh für die Fotografie begeistert hatte, war Holger in seiner Jugend am Ort ein halber Rockstar, der in zahreichen Bands aktiv war. Nach der Wende, 1992, nahm seine damalige Band Blaue Engel tatsächlich am Vorentscheid für den Eurovision 1992 teil – und wurde Zweiter. Danach zerstritt sich die Band und die Karriere als Popsternchen zerschlug sich. Holger sattelte zusammen mit Kerstin auf die Fotografie um, und daran arbeiten beide bis heute zusammen.

Noch vor Wende-Zeiten hatten sie etwas, was man heute wohl eine On-Off-Beziehung nennen würde, bevor dann irgendwann das erste Kind kam und sie dann ein paar Jahre später geheiratet haben. Als ich darüber staune, lachen sie. Die Sexualmoral in der DDR sei damals liberaler gewesen als in der kirchlich geprägten BRD. Klar hatte man davon schon gehört, aber Kinderkriegen vor der Ehe und On-Off-Beziehungen waren selbst für die damalige Zeit schon geradezu modern.

Mir fallen die Augen zu. Noch dazu, dass die letzten beiden Etappen echt anstrengend waren und die Nächte kurz und eisigkalt, scheine ich kein Bier mehr zu vertragen. Im Sinne von: ich bekomme dann starke Heuschnupfen-Symptome, mir schwillt die Nase zu und die Augen jucken wie verrückt. Nicht gut. Oder?

Immerhin bin ich froh, in Kerstin und Holgers Gästezimmer unterzukommen und dann nach den beiden kalten Nächten mal wieder in einem richtigen Bett schlafen zu können. Morgen geht es dann weiter nach Leipzig. Was schade ist, denn ich wäre wieder einmal gerne noch länger geblieben.

Das Morgentau-Lied

Text: Jürgen Vielmeier (insp. by Hoffmann von Fallersleben), Melodie: Joseph Haydn (t.b.d.)

Morgentau, o Morgentau, Wer hat dich bloß bestellt?

Das Fußende vom Schlafsack nass, die Zeltwand eingedellt.

Und gehst hinaus, kriegst’s Füße nass, die Beine schwer wie Lot.

Morgentau, o Morgentau, du Trübsal in der Not.

Ach, wartest du nur lang genug, dann brennt die Sonn‘ dich fort.

Doch selten so viel Zeit du hast, musst fort an‘ nächsten Ort.

Morgentau, o Morgentau, triffst jeden groß wie klein.

Ob 50-Euro-Festival-Bau ob Oppland-Kuppel-Zelt.

Morgentau, o Morgentau, bist’s Blödste auf der Welt.

Morgentau!

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Im Fichtelgebirge (Etappe 9)

Ich wollte eigentlich mal ausschlafen, werde dann aber doch um 0830 durch die ersten Sonnenstrahlen wach, die auf mein Zelt fallen. Mein Nebencamper aus Hannover will seinen Camper von der Steckdose losmachen, wofür der Betreiber eine Kabeltrommel auf dem Grundstück der Dauercamperin von gestern deponiert hat. Der folgende Dialog ist zum Schießen:

„Guten Morgen, entschuldigen Sie, wenn ich eben auf Ihr Gelände komme…“

„Morche, dös o koi Problem ned.:

„Na ja, ich muss den Stecker für mein Wohnmobil ausstecken.“

„Wos ist do mit däm Roadler?“

Sie meint mich. Sie hatte gesehen, dass ich gestern an der gleichen Kabeltrommel herumfuhrwerkt habe, um meinen E-Bike-Akku und mein Smartphone daran aufzuladen, beides aber inzwischen längst wieder abmontiert.

„Was? Aber der hängt da ja schon gar nicht mehr dran. Ich denke, das geht schon.“

„Se könne des Glump grod doarlorn.“

„Was?“

„Wos?“

„Nein nein, wir können die Trommel hier stehen lassen, hat der Betreiber gesagt.“

Ich höre das alles in meinem Zelt und lache mich dabei heimlich kaputt. Sie meinen beide dasselbe, aber reden völlig aneinander vorbei.

Als ich alles gepackt habe und der Dame zum Abschied zuwinke, ruft sie „Mogst noch a Koffee“ rüber.

Verdammt, die sind wirklich super herzlich, gastfreundlich – und wissen immer genau, was ich gerade brauche! ? Wie machen die das nur?

Und so packe ich zusammen und gehe dann noch einmal zu der herzlichen Dauercamperin auf die Veranda. Uns gelingt ein bisschen Smalltalk. Ihr Mann ist schon arbeiten, des fängt schon um 0600 in der Früh an. Sie geht gleich noch arbeiten, als Reinigungskraft. Sie ist Dortmund-Fan, ihr Mann Bayern-Fan. Da wird’s wohl samstags nie langweilig werden. Der Kaffee ist erstaunlich gut. „Die Bohnen san frisch gemolen“, sagt sie. Vielleicht hinterfragt sie die Dinge doch etwas mehr, als ich gestern noch dachte…

Die Gegend ist wieder einmal schön, aber es geht heute 100 km über Stock und Stein. Immer wieder steil hoch, dann wieder runter, steil hoch, runter und dann gleich noch einmal steil hoch. Es gibt kaum mal eine Atempause, der Motor röllert wie besessen, einige Hügel haben über 10 Prozent Steigung, und selbst auf Stufe 2 komme ich manchmal kaum vorwärts. Traue ich den Schildern, scheine ich im Fichtelgebirge gelandet zu sein. Meine Geografiekenntnisse sind wirklich ausbaufähig. Ich dachte immer, das wäre irgendwo in Hessen gewesen. Und ich segne die Erfindung des Automobils – und des E-Bikes.

Aus dem letzten Loch pfeifend und mit fast leerem Akku komme ich ein paar Kilometer hinter Hof am Zeltplatz an.

Ich will eigentlich nur mein Zelt aufbauen, im Liegestuhl auf den See hinaus schauen, alle Viere von mir strecken und dabei ein gutes Buch lesen. Aber dazu komme ich natürlich nicht. Denn ich lerne Peter und Beate im Waschraum kennen.

Die erste Waschmaschine hat meine dreckigen Klamotten nur geschleudert, na toll. Die zweite Maschine wäscht wirklich, gibt aber danach die Tür nicht mehr frei. Sofort scharen sich die Umstehenden, die gerade beim Spülen sind, zusammen, um mir zu helfen. „Vielleicht mal mit Gewalt“, schlägt einer vor. „Nee, wirf lieber noch mal 50 Cent nach“, sagt eine Frau. „Die war vielleicht noch nicht fertig“. „Okay“, sage ich, „aber ich habe kein 50-Cent-Stück mehr“. „Och, wir haben noch viele davon“, sagt ein Mann, dessen Frau gleich neben ihm steht. „Kommste eben mit. Unser Camper steht gleich da vorne.“

Und das sind Peter aus Beate aus der Nähe von Husum. Wir tauschen ein wenig Kleingeld und reden bei der Gelegenheit ein wenig: „Wenn du auf deiner Tour da oben bist, kannst du bei uns übernachten oder im Garten zelten“, bietet Beate an. Da kennen sie mich seit noch nicht einmal 5 Minuten… „Neinein, das ist zu großzügig, aber ich werde auf jeden Fall klingeln, wenn ich vorbei komme.“

In etwas über einer Woche wäre das wohl der Fall. Wir haben Nummern ausgetauscht, und ich bin sehr, sehr gespannt, ob wir das auch wirklich durchziehen. 🙂

Heute habe ich ein paar Dinge organisiert. Ich habe allen, die ich unterwegs noch besuchen will, ein Ungefähr-Datum genannt und auf dem Klo heute Morgen eine Bahn-Fahrtkarte für kommende Woche Freitag gelöst (ich liebe Mobile Shopping). Dann wäre ich rechtzeitig wieder in Bonn, um die Vereinsmeisterschaften zu gewinnen – oder zumindest daran teilzunehmen. 😉 Auf jeden Fall bin ich jetzt auf einige Termine mehr oder weniger festgelegt.

Die Rückfahrt zu organisieren, ist derweil gar nicht so einfach. Einen Stellplatz fürs Rad habe ich nur ab Hamburg. Von Sylt bis dahin muss ich mich irgendwie mit Regionalexpressen durchschlagen, weil die Bahn nichts Anderes anbietet. Aber wird schon schief gehen. Mit Fahrrädern auf Sylt – was soll man denn damit? Das macht bestimmt keiner außer mir… ?

Als ich gerade in den Waschraum komme, beschwert sich ein kleiner Junge in einem bayerischen Dialekt, den ich kaum verstehe, über die beiden Powerbanks, die jemand neben den Waschbecken in eine Steckdose gesteckt hat. Die seien zu unsicher angebracht oder sowas. Ich stimmt ihm zu – und erwähne da erstmal nicht, dass die eine Powerbank von mir ist. ?

Sie lädt übrigens nicht mehr so richtig gut. Drei Stunden am Strom und erst 2 von 4 Strichen. Das ist zu wenig.

Morgen geht es zu Holger nach Chemnitz, der mich zu sich eingeladen hat, obwohl er morgen eine kleine OP hat. Ich habe ihn vor zwei Jahren auf der Tour durch die Schweiz kennengelernt. Bin nach vier Tagen in Bayern jetzt auch ganz froh, mal wieder ein anderes Bundesland zu sehen. Keine Deutschlandreise ohne den wilden Osten!

Heute war ich einfach nur happy. Bin voll drin im Urlaub und scheine aktuell gar nichts zu verarbeiten zu haben. Da kommt sicher noch was nach. Aber jetzt gehe ich wirklich mal noch eine halbe Stunde was lesen – und mich dabei dick im Schlafsack einmurmeln. Die Nächte hier im Mittelgebirge sind also auch im Hochsommer bitterkalt.

Notizen

Jeder See, jeder Fluss, jede Talsperre in Bayern, an der ich vorbeikomme, hat zu wenig Wasser. Die Gegend ist staubig, die Ernte auf den Feldern sieht vertrocknet aus. Die, die hier wohnen, machen sich echte Sorgen. Man kann die Auswirkungen des Klimawandels direkt an der Landschaft ablesen.

Talsperre führt sehr wenig Wasser.

Da besser nicht als Paar hingehen. ☝️?

Hof schreckt mich auf den ersten Blick völlig ab. Die Stadt hat selbst auf Radwegen kaum abgesenkte Bordsteine, Autos dominieren das Stadtbild. Und noch dazu brennt es, Hubschrauber kreisen, es wirkt surreal:

Nachtrag: Als ich neulich die Panne hatte, hat Bene aus meiner Tischtennismannschaft etwas dazu gedichtet (!) und mir geschickt, und ich finde: er kann das! Seht selbst:

Voller ungeahnter Talente, der Mann!